Hellinger Kontroverse
Klaus Grochowiak
Angesichts einer hochsensibilisierten Öffentlichkeit ist es uns ein Anliegen, an dieser Stelle mit einigen situierenden Überlegungen in eine Debatte einzugreifen (“Die Bert Hellinger Kontroverse”), die in mehr oder minder deutlicher Lautstärke nun seit über einem halben Jahrzehnt die Gemeinde der Psychotherapie durchzieht.
Denn es war das Jahr 1993, in dem Gunthard Weber das Buch Zweierlei Glück edierte, um damit dem bis dahin Insidern als Therapeut für Therapeuten bekannten Bert Hellinger gleichsam über Nacht zu einer Publizität zu verhelfen, die die engen Fachgrenzen weit überschritt. Und sie bis heute in einem Maße überschritten hat, daß es sich allgemein bereits eingebürgert hat, den ehemaligen Insidertip mittlerweile mit dem Begriff das Phänomen Hellinger zu betiteln.
Mitangesprochen ist in dieser Diktion dabei mehr als die rasende Verbreitung einer Therapieform, und der exponentiell wachsende Bekanntheitsgrad ihres Protagonisten. Wer von dem Phänomen Hellinger spricht, bezieht sich zugleich auf die Reaktionen, die Hellinger in seiner Umgebung auslöst. Wesentlicher Bestandteil des Phänomens ist jene Diskussion, die wir in der Überschrift dieses Abschnitts die Hellinger-Kontroverse genannt haben; eine Kontroverse, innerhalb derer wir nun einerseits unseren eigenen Standpunkt deutlich machen wollen, und zu der wir andererseits insgesamt Stellung nehmen werden.
Denn die Debatte über Hellinger zeigt eine Reihe von Besonderheiten, die sie ganz sicher von den allermeisten Diskussion unterscheidet, so kontrovers und entschieden diese auch geführt werden mögen. Interessant an der Auseinandersetzung sind also nicht nur die inhaltlichen Fragen, um die gestritten wird, von besonderem Interesse ist im Fall Hellinger auch die Form, in der das geschieht. Denn wenn sich an einem Gegenstand Form und Inhalt letztlich nie isoliert betrachten lassen, dann kann die Art und Weise, in der über das Phänomen Hellinger diskutiert wird, durchaus schon als substantieller Bestandteil seiner Arbeit gelten.
Das Tabu
Wenn denn offen diskutiert wird, wenn also überhaupt im öffentlichen Raum Stellung für oder gegen die Methode Hellingers bezogen wird. Denn das ist, genauer gesagt: das war nicht immer selbstverständlich. Immerhin noch im Jahr 1997, also fast ein halbes Jahrzehnt nach dem Erscheinen von Zweierlei Glück sieht sich Bernhard Trenkle genötigt, der Hellinger-Diskussion ein öffentliches Podium zu bereiten: Auf seine Initiative hin durchbrechen in der April-Ausgabe von Hypnose und Kognition drei Aufsätze als demonstrativ installiertes Streit-Forum die Mauer des Schweigens. Und wie der Initiator dieser Diskussionsrunde dazu in seiner Einleitung bemerkt, gelang es nur unter größeren Schwierigkeiten, diese bescheidene Zahl an Beiträgen überhaupt zusammen zu bekommen. Die meisten der angesprochenen Kollegen zögerten, Bedenken, Einwände und Ängste wurden laut, sich in publico zum Thema Hellinger zu äußern.
Und das nicht, weil es nichts zu sagen gegeben hätte. Ganz im Gegenteil war Hellinger – so Trenkle – in den angesprochenen Kollegenkreisen das Thema. Nur eben nicht öffentlich, sondern einzig informell; man diskutierte über ihn, aber eben nur hinter vorgehaltener Hand. So bereitwillig und engagiert die Diskussion in den Kaffeepausen der Seminare und Kongresse auch geführt wurde, so wenig Bereitschaft bestand, sich in schriftlicher und damit in fixierter Form zum Thema zu äußern.
Mehr noch: Die eigentliche Scheu bestand nicht darin, eine bestimmte Position zu Hellinger zu beziehen, der zentrale Widerstand lag darin, überhaupt als Diskussionspartner mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. Das erste signifikante Merkmal der Hellinger-Debatte bestand also darin, daß sie nicht stattfand, zumindest nicht in der an den Usancen des Betriebes gemessenen Form. Der Fall Hellinger erschien zunächst in jener paradoxen Dopplung des Anwesend-Abwesenden wie sie jedem Tabu zu eigen ist: Per Berührungsverbot dem Reich des Gewöhnlichen und Alltäglichen enthoben ist es als das Unberührbare ständig präsent und allgegenwärtig.
Die Attacken
Die Frage, die sich aufdrängt heißt: Warum ist das so? Was unterscheidet Hellinger von anderen, ebenfalls nicht unumstrittenen Personen der Therapieszene, daß er anders als sie zur unberührbaren Figur avancieren konnte?
Konnte, denn mittlerweile scheint der Bann gebrochen: Man setzt sich mit ihm auseinander. Und zwar öffentlich unter Nennung des eigenen Namens. Schriftlich also und in Publikationsorganen unterschiedlichster Breitenwirkung wird nunmehr nachgeholt, was lange unter der Oberfläche gären durfte.
An die Stelle der Berührungsangst ist mittlerweile die Bereitschaft getreten, sich im öffentlichen Gespräch über Hellinger ins Gespräch zu bringen. Und das gelingt um so besser, je schärfer der Tonfall gewählt wird. So ist aus den Reihen der Kritik von Mißachtung, von Bloßstellung und Verachtung gegenüber seinen Klienten die Rede. Hellingers Äußerungen werden als autoritär, dogmatisch, apodiktisch und fundamentalistisch qualifiziert. Seine Haltung gilt als Renaissance eines längst überwunden geglaubten Wertkonservatismus, der sich in chauvinistischen Rollenklischees und herrschaftsstabilisierender Hierarchiegläubigkeit ergeht. (Etwa U. Freund in seinem Beitrag in Hypnose und Kognition. S.113ff.)
Weniger frontale Angreifer bauen semantische Felder von Jahrmarkt-Wahrsagern auf, ziehen Querverweise zur “seelsorgerischen” Arbeit von Fernseh-Talkshows und plazieren Hellinger süffisant in den damit eröffneten Assoziationen – um im selben Atemzug zu betonen, man wolle seinen Ansatz weder positiv noch negativ bewerten. (So Fritz. B. Simon und Arnold Retzer in Psychologie heute 7/98, S. 64ff)
Und weil unter nüchternen Wissenschaftlern jede Form der Wertung außen vor bleiben soll, stuft man die eigenen, rein deskriptiven Äußerungen über Hellinger als einen puren Akt zur Aufklärung des Verbrauchers ein, erklärt sich gar dezidiert zum Verbraucherschützer. (F. B. Simon/ A. Retzer ebd.).
Stilfragen
Was also ist dran an dem Bild, das die Gegner Hellingers unisono von ihm zeichnen? Was ist das Besondere an diesem Mann, daß seine Gegnerschaft sich in so einmütiger Form auf etwas einschießen kann, das sich zu der Karikatur eines suggestionsmächtigen Gurus im Lichtmantel seiner gottverliehenen Allwissenheit aufaddieren läßt? Warum werden in verwandelter Form immer wieder die stereotypen Vorwürfe eines unausgewiesenen Absolutismus gegen ihn laut?
Einer der Gründe dafür liegt u. E. in einer folgenschweren Verwechslung. Einer Verwechslung, die allerdings von Hellinger selbst immer wieder zurückgewiesen wird. Es ist die mangelnde Unterscheidung zwischen der Art und Weise wie er arbeitet und den von ihm entwickelten Prinzipien mit und nach denen er vorgeht. Verwechselt wird allzuoft der Stil und die Substanz seines Vorgehens.
Daß diese Verwechslung immer wieder auftaucht, liegt dabei an einer Konstellation, die wir als ein Zusammentreffen mehrerer und ganz unterschiedlich gelagerter Faktoren begreifen. Ein angemessenes Urteil wird also davon abhängen, in wie weit es gelingt, die vielschichtigen Faktoren hinter dem “Phänomen Hellinger” wieder einzeln in den Blick nehmen und einordnen zu können.
Da ist zunächst die mediale Form, in der Hellinger dem Publikum begegnet: Zum einen sind dies die öffentlichen Seminarveranstaltungen, die ihn “live” auf der Bühne präsentieren. Zum anderen gewinnt er seine Breitenwirkung über eine mittlerweile große Zahl an Büchern, die entweder seine Workshops dokumentieren oder in mehr oder weniger literaler Form die Essenz seiner Position vermitteln. Grundsätzlich also wäre hier der Unterschied zwischen Wort und Schrift zu markieren.
Gerade diese Unterscheidung aber wird gerne übersehen. In bestimmten Kontexten spielt sie auch keine zentrale Rolle für eine adäquate Rezeption und gestaltet sich in den Zusammenhängen vollkommen unproblematisch, in denen die dokumentierte Praxis in erster Linie zur Verdeutlichung einer gesondert zur Verfügung stehenden Methodenbeschreibung und expliziten Theorie dient. So ist es in anderen psychologischen und psychotherapeutischen Schulen gängige Praxis, eine Methode deskriptiv darzulegen und theoretisch einzubetten, um sie an entsprechenden Fallbeispielen im einzelnen zu veranschaulichen. In der Regel stellte sich eine Methode also immer als lerntechnisches “Doppelpack” von Beschreibung und Vorführung dar.
Anders bei Hellinger. Hier fehlt gerade die eine Seite der Vermittlung, wir lernen seine Methode nicht als Beschreibung einer Methode kennen, sondern zunächst allein aus der Beobachtung der je vollzogenen Praxis. Wir sagen zunächst, weil Hellinger über das bloße Vorführen hinaus mittlerweile nun auch die Neigung zeigt, sein Vorgehen in beschreibender Weise zu vermitteln.* Doch ist dies eben erst eine Entwicklung der allerletzten Zeit, vielleicht auch eine Reaktion auf die Kontroverse selbst, die in weiten Teilen das Produkt seiner diesbezüglichen Enthaltsamkeit ist.
Wir erinnern an seine jahrelange Weigerung, mit der er jeder schriftlichen Form der Veröffentlichung, der Dokumentation, seiner Arbeitsweise die Absage erteilt hat, und bis heute jeder Form der Theoretisierung seines Vorgehens erteilt. Allerdings geschieht die nicht von ungefähr. Denn bereits die spezielle Qualität seiner Arbeit widersetzt sich dem dokumentatorischen Wunsch, der mit dem Festhalten des Geschehens hofft, verallgemeinerungsfähige Strukturen einfangen zu können. Und zusätzlich unterminiert die besondere Form, der von Hellinger gepflegte Arbeitsstil, die Chance, aus der tatsachengetreuen Überlieferung seiner Interventionen und Einlassungen, eine erschöpfende Skizze seines Projektes zeichnen zu können.
Die Punktualität der Arbeit
Denn Hellingers Vorgehensweise ist radikal präsentisch, sie erwächst aus dem Augenblick für den Augenblick, sie agiert ausschließlich im Hier und Jetzt. Dementsprechend folgt die Sprache, die dabei zum Einsatz kommt, ganz der Radikalität des Moments: Sie ist absolut, wie das Hier und Jetzt, sie ist die schiere Aussage dessen, was jetzt ist.
So gesehen kann Hellingers Arbeit als eine Form extremer Individualtherapie verstanden werden, die sich ganz der Momenthaftigkeit der Wirklichkeit des Klienten aussetzt. Sie haftet dieser Momenthaftigkeit an, und die Augenblicksstruktur der Arbeit unterminiert jede Form des Transfers: Wenn etwas für einen Klienten nur im Hier und Jetzt gilt, dann endet die Wirklichkeit des Gesagten bereits im letzten Wort – eine andere Gegenwart, ein neuer Augenblick, angereichert um die Aussage, produziert eine neue Wirklichkeit.
An dieser Stelle spielt eine zweite wesentliche Unterscheidung mit hinein: Obgleich Hellinger einerseits auf der Grundlage einiger Basisdeterminanten arbeitet (die Grunddynamiken von Bindung, Ausgleich, und Ordnung), folgt seine Intervention andererseits keinem Muster. Sie überantwortet sich ganz und gar dem jeweiligen Klienten in seiner Jeweiligkeit und unterstellt sich dem in diesem Fokus Sichtbaren.
Das Sichtbare “ans Licht” zu bringen, die Wirklichkeit hinter den Verstellungen des Alltäglichen zu entbergen, dieser phänomenologische Rückgang auf das, was ist (zu den Sachen selbst), läßt sich aber nicht trennen, von der Augenblicklichkeit des Moments und Einmaligkeit der Begegnung und des Dialogs zwischen Therapeut und Klient.
Dementsprechend widersetzt sich eine Methode, die sich der methodisierenden Verallgemeinerung entzieht, ihrer textuellen Fixierung im Sinne einer handlungsleitenden Mustersammlung. Wenn etwas sich in seiner Sinnhaftigkeit und Gültigkeit ganz an den punktuellen Moment bindet, dann steht seine schriftliche Fixierung schnell in der Gefahr, eben diese Augenblicksstruktur zu verschleiern.
Und genau dieses Vergessen der Momenthaftigkeit können wir beobachten, wenn wir auf die immer gleiche Kritik an Hellingers Rigorismus und Dogmatismus sehen. Hier wird übersehen, daß gesehen (gelesen) wird, was eigentlich nur gehört werden dürfte. Hier wird übersehen, daß die Aussage nur auf dem Boden ihrer unmittelbaren situativen Bezogenheit lebensfähig ist. Jedes Herauslösen, jedes kontextvergessene Zitieren etwa, mißversteht die spezifische Zeitstruktur dieser Arbeitsweise und die systemische Vielschichtigkeit.
Das Ereignis des Entbergens
Und es wird übersehen, daß die oftmals drastische Zuspitzung der Äußerungen Hellingers nicht nur Voraussetzung therapeutischer Wirkung ist, sondern in gleichem Maß auch Folge der Ereignishaftigkeit des Prozesses. Das heißt die Form der Sprache, die Stilistik der Prozeßarbeit, ist das konsequente Produkt der Struktur dessen, was wir als die zentrale Wirkmechanik, als den substantiellen methodischen Kern in der Arbeit Hellingers entziffern.
Bedenkt man allerdings die Differenz von Form und Inhalt, von der wir oben bereits sprachen, dann kann gleichsam im Hintergrund die Frage gestellt werden, ob die angesprochene Konsequenz in diesem Fall tatsächliche eine notwendige Konsequenz ist, oder ob nicht auch andere Wege möglich wären. Für den Moment vertagen wir diese Frage und richten unser Augenmerk statt dessen auf die wohltuend differenzierten Äußerungen, mit denen Insa Sparrer sich in der Diskussion über Hellinger positioniert.
Ihr zu folgen lohnt sich, denn sie hat Recht und Unrecht zugleich, wenn sie der platten Hellinger-Kritik das grundlegende Mißverstehen seines Sprachgebrauchs attestiert: Der Vorwurf, Hellinger agiere mit vollkommen willkürlich aufgestellten Behauptungen, kann sich demgemäß nur dann aufbauen, wenn übersehen werde, daß Hellingers Äußerungen “nicht als Deskription” aufzufassen sind, sondern in erster Linie injunktiv und operativ, also auffordernd und bewirkend. Sie sind therapeutisch zu verstehen, und das heißt bei Hellinger im Rahmen einer Methode, etwas Augenblickhaftes zu benennen, um dadurch eine automatische Musterwiederholung zu durchbrechen.” (I. Sparrer. Hypnose u. Kognition 14. S. 122)
Mit der Betonung des operativen Charakters der Sprache Hellingers stimmen wir vollkommen überein, doch sehen wir die Basis der Operabilität anders als Sparrer gerade in der von ihr verneinten Deskriptivität der Äußerungen: U. E. entfaltet gerade die ungeschönte und komprimierte Beschreibung, Aussage, dessen, was hier und jetzt ist, die anvisierte therapeutische Wirksamkeit. Die Konfrontation mit der unverborgenen eigenen Wirklichkeit ist der Boden möglicher Veränderung und die therapeutische Intervention im Sinne Hellingers ist (als erster Schritt) der Weg, diesen Boden freizulegen.
Damit radikalisiert und entschärft sich die Interventionsform Hellingers zugleich. Wir können diese Gegenläufigkeit verdeutlichen, wenn wir das häufig und auch von Sparrer angeführte Beispiel einer vermeintlich brutalen Antwort Hellingers aufgreifen: “Die Beziehung ist verspielt!” – als offenbar unvermittelte Konfontation während des Prozesses. Die Szene ist in Kreisen der Gegnerschaft Hellingers so etwas wie das Standardbeispiel sowohl für die ihm attestierte Weissagekraft als auch für die unterstellte Tendenz zur Bloßstellung und Verachtung von Klienten.
Demgegenüber hält Sparrer der Kritik sehr richtig entgegen, dies sei “nicht etwa eine Aussage in Bezug auf die Zukunft”. Nach allem, was wir zuvor festgestellt haben, kann eine solche Äußerung nur als Beschreibung eines gegenwärtigen status quo verstanden werden. Damit entschärft sich die Situation dahingehend, daß mit der Äußerung kein Anspruch auf vorausliegende Gültigkeit formuliert ist, sie alles andere als einen prophetischen Charakter besitzt, da sie ja im Gegenteil nur das aussagt, was jetzt gegenwärtig ist.
Auf der anderen Seite aber radikalisiert sich damit die Lage zugleich. Denn diese Äußerung gilt für das Jetzt, d. h. sie gilt absolut, und sie muß sich diesen Absolutheitscharakter bewahren. Hier hilft es gerade nicht, nach relativierenden oder harmonisierenden Interpretationen zu suchen, und hier dann stimmen wir Hellinger zu, wenn er sich ausdrücklich dagegen wendet, mit Hilfe hermeneutischer Hochleistungen die Radikalität der Situation zu entkräften. So bietet Sparer an dieser Stelle den Versuch an, die verdichtete Formel dahingehend aufzuschlüsseln: “Wenn du deine jetzige Haltung und dein jetziges Handeln beibehältst, hat die Beziehung keine Chance mehr.”
Eine solche Interpretation und Übersetzung leistet dem Ansatz Hellingers jedoch einen Bärendienst, der ihn geradewegs dem Vorwurf des Dogmatismus und der Willkür aussetzt. Denn es besteht kein qualitativer Unterschied zu behaupten, eine Beziehung habe keine Zukunft oder zusätzlich die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen diese Beziehung keine Zukunft habe. In beiden Fällen werden Aussagen über die Zukunft getroffen, in beiden Fällen geriert sich dann jemand, als sei er im Besitz einer höheren Wahrheit. Gerade so, wie es Hellinger vorgeworfen wird.
Dieser Eindruck aber verschwindet, wenn man bereit ist, der ganzen Härte der Aussage ungeschmälert zuzustimmen: Die Beziehung ist verspielt, x ist y, hier und jetzt, denn das ist das, was sich im therapeutischen Dialog gezeigt hat. Wenn die Rede von einer phänomenologischen Therapie irgendeinen Anspruch auf Relevanz in sich tragen soll, dann gewiß den, unter den Verschalungen und Verdeckungen der alltäglichen Interpretationen und Verstrickungen dasjenige freizulegen, was die Wirklichkeitskonstruktion des Klienten als dessen innere Wahrheit ausmacht.
Und wenn diese Wahrheit das gegenwärtige Ende einer Beziehung ist, dann ist dieses Ende eben als solches unhintertreiblich absolut. Aber – und dieses aber muß deutlich genug gesagt werden – aber immer nur insofern dieses Ende ein gegenwärtiges ist. Darin genau liegt die paradoxe Dopplung begründet: Die gegenwärtige Absolutheit und die absolute Gegenwärtigkeit entheben den Prozeß letztlich jeder Zeitstruktur. Sie eröffnen einen atemporalen Raum, der in dieser Fokussierung nicht radikaler gedacht werden kann, der aber in dieser Fokussierung eben auch zugleich immer seine eigenen Grenzen mitthematisiert.
Und weitergehend weist der Gültigkeitsbereich des Gesagten aus der absoluten Beschlossenheit im Hier und Jetzt über das Hier und Jetzt als bloßem Jetztpunkt einer zeitlichen Abfolge hinaus. Nicht umsonst bedient sich das Instrument der Aufstellung des Raumes, löst also als Verraumung eine immer in Zeit sich ereignende Geschehensabfolge aus ihrem angestammten Bezugssystem. Was hier geschieht kann mit einem alten Begriff als eigentliches Geschehen der Transzendenz beschrieben werden: Transzendiert, also überstiegen, wird in diesem Prozeß das raum-zeitliche Koordinatensystem, der gewöhnliche Weltzusammenhang verlassen. So gesehen färbt sich der Begriff der Absolutheit neu, denn was hier absolut gilt, gilt im wörtlichen Sinne ab-solut, also losgelöst aus dem raum-zeitlichen Realitätszusammenhang. Und die Wahrheit der Aussage ist hier eben nicht als Übereinstimmung mit einem tatsächlichen, nachprüfbaren Sachverhalt zu denken, sondern ganz im Sinne Heideggers als das Ans-Licht-kommen, als die Unverborgenheit dessen, was ist – das Dasein des Klienten.
Der Autor und die Leser
So betrachtet dürfte dann deutlich werden, warum sich diese Form therapeutischer Intervention so vehement dem Versuch entzieht, ihr methodisches Gerüst im Zuge dokumentarischer Darstellungen zu skizzieren. Wenn es um den Prozeß der Entbergung, der Offenbarung der Wahrheit des je Einzelnen geht, dann wird zu vermuten sein, daß der Weg dorthin sich kaum mit denen anderer vergleichen lassen wird.
Hier begegnet uns gleichermaßen der Kontrapunkt zum NLP, dessen Formate gerade das eine und unverwandelte Handlungsschema auf sämtliche Klienten anwenden, die laut Symptomanalyse dafür in Frage kommen. Dort aber wo dieser Schematismus nicht zum methodischen Rüstzeug gehört, wird es schwierig werden – wir verweisen auf den analogen Fall Milton Erikson – hinter den vielfältigen Erscheinungsformen nach allgemeinen Mustern zu suchen. Da, wo der Therapeut sich per se dem Klienten anschließt und ihm reagierend nachfolgt, liefert die Kenntnisnahme dieser Nachfolgebewegungen nicht notwendigerweise Kriterien, aus denen sich Richtlinien für solche Bewegungen schließen lassen.
Hier also wird die lange bestehende Weigerung Hellingers verständlich, mit der er sich gegen jede Form literaler Dokumentation seiner Arbeit ausgesprochen hatte. Die Suggestion des Buches besteht in diesem Zusammenhang ja gerade darin, etwas Fixes, Habhaftes, ein nachschlagbares Instrumentarium bereitzuhalten.
Obgleich die Veröffentlichungen Hellingers nun selbstverständlich mit Nutzen und Gewinn gelesen werden können, scheint ihre Wirkung jedoch stark unter der genannten Suggestion zu stehen: Das Geschriebene verselbstständigt sich, wird seiner situativen Bezogenheit entkleidet und kehrt nicht selten mit einer bibeltreuen Katechismusmentalität in den Diskurs zurück. Diese Rückkehr, das zeigt die Erfahrung mit einer stetig sich verbreiternden Schar von Hellinger-Anhängern, ist dann durchaus oftmals gekennzeichnet von einem dogmatischen Rigorismus, der jedoch als unguter Habitus nicht mit dem Hellingers verwechselt werden sollte. Genau das ist nicht in seinem Sinn und ist von der Substanz seiner Methode nicht gedeckt.
Allerdings wird auf diese Weise verständlich, und damit schließen wir den Bogen an die eingangs gestellte Frage, inwiefern sich Hellinger von anderen, ebenfalls nicht unumstrittenen Personen der Therapieszene unterscheidet. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß er zur unberührbaren Figur avancieren konnte, findet ihre Antwort in jener fehlorientierten Lektürementalität, die das aktuale Movens der Äußerung außer Acht läßt. (Was allerdings auch geschehen kann, bei der direkten Beobachtung seiner Arbeit.)
Bis hierhin soll nur festgestellt werden, daß die ideologische Härte in der Hellinger-Auseinandersetzung, die Entweder-oder-Mentalität, sich ganz und gar und ohne Zwischentöne für oder gegen ihn entscheiden zu müssen, ein wesentliches Motiv in dem Mißverständnis findet, es ginge hier überhaupt um die Verbreitung allgemeiner Wahrheiten.
Unter dem Eindruck, hier schwinge sich jemand auf, einer verunsicherten Öffentlichkeit an der Schwelle des neuen Jahrtausends endlich wieder sichere und über die Maßen simplifizierende Handlungsrichtlinien zu verkaufen, kann die Hitzigkeit der Debatte sehr wohl verstanden werden.
Doch es bedarf bei Hellinger schon eines zweiten Blickes, um die vorschnelle Diskreditierung eines “weissagenden Mannes” gegen weniger anachronistische und näher an der Sache liegende Einschätzungen zu tauschen.
Das Janusgesicht der Freiheit
Nach dem bisher Gesagten dürfte vielmehr umgekehrt deutlich werden, aus welchem grundlegenden Mißverständnis heraus von Seiten der klassischen systemischen Familientherapie gegen Hellinger der Vorwurf erhoben wird, er liefere unausgewiesene Wahrheiten, anstatt dem System den Spielraum seiner Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten zu erweitern.
Dieser Vorwurf zeigt überaus deutlich, daß die betreffenden Kritiker Hellinger noch ganz und gar durch die eigene Brille betrachten: Denn erstens ist das, was im Prozeß der Intervention zu Tage gefördert wird, am allerwenigsten die Wahrheit Hellingers, noch ist es eine Wahrheit des Klienten, die im Sinne einer Bestandsaufnahme des real Wirklichen und Möglichen auf Handlung ausgerichtet ist.
Vielmehr handelt es sich um die Wahr-Nehmung seiner dispositionellen Wahrheit, um die Freilegung dessen, was sein aktuelles Dasein essentiell ausmacht. Wenn man so will setzt das Transzendieren, das Verlassen des Raum-Zeit-Zusammenhangs einen Prozeß in Gang, der es dem Einzelnen ermöglicht, überhaupt zu erfassen, was denn seine Formative für seinen Weltzusammenhang sind.
Und zweitens ist dann klar, daß es bei diesem Prozeß vorrangig nicht um Handlung, um Modifikationen der Kommunikations- und Interaktionsstrategien des Einzelnen oder des Familiensystems gehen kann. Will man schon in pragmatischen Kategorien denken, dann geht es hier zunächst um Situierungen, die es dem Subjekt ermöglichen, sich in Einklang mit der neu gefundenen eigenen Wahrheit anders, adäquater und gesünder in der Welt zu positionieren.
Doch muß klar sein, daß dieser postume Prozeß der Veränderung nicht das unmittelbare operationale Ziel der Intervention ist. Hier unterscheidet sich Hellinger sehr drastisch von den Systemikern klassischer Provinienz. Deren strategische Zielsetzungen und Effizienzkriterien sind in der Tat nicht kompatibel mit Hellingers Arbeitsweise. Sie müssen es auch gar nicht sein, doch sollte sich das Urteil über Hellinger dann immer auch dieser Differenz bewußt sein.
Hält man dagegen diese Differenzen im Blick, dann stellen sich allerdings einige Zusammenhänge klarer da. So zerrinnt der Vorwurf des Dogmatismus in dem Moment, wenn die Gegenläufigkeit von maximaler Individualtherapie einerseits (jmd. vor seine eigene Wahrheit bringen) und den überindividuellen Grunddynamiken beachtet wird, die Hellinger im Laufe der Zeit als relevante Wirkmuster entdeckt hat. Nur wenn beide Seiten verwechselt werden, wenn also nicht unterschieden wird, wann eine Äußerung als Aussage über ein (dabei durchaus als vorläufig deklariertes) empirisches Wissens gilt, und wann sie Bestandteil der Prozeßarbeit ist, kann der Eindruck des Guruhaften erwachsen. Und spätestens dann auch entlarvt sich das Zerrbild eines suggestiven Manipulators, der den Klienten seiner Freiheit beraubt, als eine Chimäre. Wenn man denn statistische Vergleichsgrößen heranziehen will, dann könnte man gerade umgekehrt so weit gehen, und die vollkommene Offenheit, in die Hellinger seine Klienten im Anschluß an den Entbergungsprozeß entläßt, als das ungleich größere Freiheitsmoment entziffern, als dies etwa auf Seiten der klassischen systemischen Familientherapie gegeben ist. Denn dort werden dem System ja bereits konkrete Alternativen unterbreitet, das heißt dem System werden substantielle, inhaltliche Möglichkeiten angeboten, die es aufnehmen oder verwerfen kann. Dabei agiert die Intervention des Therapeuten manipulativ (in einem wertneutralen, rein funktionalen Sinn), insofern sie etwa im Zuge des zirkulären Fragens die Reflexionsfähigkeit des Systems (unbewußt) transformiert.
Bei Hellinger hingegen gibt es nur das blanke, punktuelle Ereignis. Das Maximum, was hier erarbeitet wird, ist das Lösungsbild, ein transformierter Entwurf, den wir oben als die Basis der Neusituierung beschrieben haben. Alles andere und darüber hinaus gehende bleibt dem Klienten überantwortet und fällt ganz und gar in seine Verantwortung. Insofern ist er vollkommen frei, allerdings auch vollkommen auf sich gestellt – allein. Die Freiheit, in die er damit entlassen wird, bedeutet zugleich die Aufgabe, ohne weitergehende Begleitung den initialen Akt in einen sich anschließenden, kontinuierlichen Entwicklungsprozeß zu lenken.
Wie immer, wenn die Verantwortung des Einzelnen als Ressource ernst genommen wird, zeigt sich auch hier das Doppelgesicht der Freiheit: Sie würdigt die Autonomie des Individuums und ist zugleich die Forderung an das Individuum, diese seine Autonomie permanent in Eigenverantwortung zu realisieren.
Rein konzeptionell sieht das Vorgehen Hellingers keine Nachsorgeprogramm vor und stellt so gesehen eher eine Anstoßbewegung als eine kollaterale Unterstützung dar. In der Praxis allerdings ergänzt eine Aufstellung häufig eine längerfristige Psychotherapie.
Risiken
Abschließend möchten wir an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückkehren und noch einmal die Frage stellen, inwieweit die allseits verbreitete Konfusion über Form und Inhalt seiner Arbeit in die Verantwortung Hellingers selbst fällt. Inwiefern also trägt Hellingers dazu bei, die offensichtlichen Schwierigkeiten und Verwechslungen durch den von ihm gepflegten Stil, durch die Art seines öffentlichen Auftretens und seiner Äußerungen eher zu unterstützen, denn zu beseitigen?
Zunächst einmal kann ganz allgemein festgestellt werden, daß grundsätzlich niemand, kein Redner, kein Schreiber, davor gefeit ist, mißverstanden zu werden. Texte, gleichgültig ob gesprochen oder geschrieben, die einmal den öffentlichen Diskurs betreten haben, führen ein Eigenleben, das sie dem Gebrauch der anderen, Hörer und Leser, überantwortet.
Ob diese dann in den Texten das finden, was der Autor ihnen glaubte beigelegt zu haben, ob die Texte so verstanden und interpretiert werden, wie es an anderer Stelle intendiert war, entzieht sich grundsätzlich der Macht des Autors. Jeder versteht anders, bringt es die Hermeneutik auf den Punkt, und um diese Bedingungen sollte jeder wissen, der das Wort ergreift. Und dennoch gibt es auch innerhalb dieses frei flotierenden Spiels der Texte gewisse Parameter, die die Bandbreite dessen bestimmen, was an Verständnis und damit an Mißverständnis möglich ist. Denn es ist eine Sache, etwas zu sagen, und eine andere ist es, zu sagen, was man gerade gesagt hat.
Diese Unterscheidung zweier ganz verschieden gelagerter Sprachebenen kennen wir als die Differenz von Objekt- und Metasprache. Während auf der ersten Ebene der Gegenstandsbezug eine außersprachliche Realität befaßt, bezieht sich die Metaebene auf die Rede selbst, ihr Inhalt also ist die objektsprachliche Beschreibung.
Das alles mag hinlänglich bekannt sein, doch gewinnen wir mit der Erinnerung an diese Unterscheidung einen guten Ansatz, für die Frage nach Hellingers Eigenanteil an der Hitzigkeit der um ihn geführten Debatte.
Um es vorwegzunehmen: Wir betrachten den Text Hellingers, also das Gesamt seiner wörtlichen und schriftlichen Äußerung, als ein in sich fast geschlossene Gebilde, das wir den inszenatorischen Raum des wirkenden Wortes nennen möchten. Damit ist gemeint, daß Hellinger zum einen selten die einmal betretene Sprachebene verläßt, die zum anderen als ein operationaler Diskurs beschrieben werden kann.
Seine Rede ist nicht Rede über etwas, seine Rede ist immer Rede des etwas; sie referiert nicht, sie agiert, sie transformiert. Der von ihm gewählte Diskurs will also weniger darstellen, aufzeigen, informieren, sondern ist wesentlich darauf gerichtet zu formieren, zu verändern, zu wirken; und das Wort ist bei ihm nicht Einleitung, Kommentar und Begleitung der Handlung, sondern das Wort selbst ist wirkende Handlung.
Daß der Hellingersche Text sich als so verdichtete Form sprachlicher Handlung zeigt, ist für sich genommen zunächst ganz unproblematisch. Probleme entstehen erst in dem Moment, in dem dieser Raum der Operabilität so selten verlassen wird. Denn es gehört zu den Grundeigenschaften menschlicher Kommunikation, daß die Rede sich gleichsam verdoppelt, daß sie sich kommentierend, erläuternd, verortend und erklärend auf sich selbst zurückwendet.
Im Dialog geschieht dies über Rückfragen, die den Sprecher dazu bringen aus der Sach- in die Metaebene zu wechseln, um seine offenbar unklaren Äußerungen einzuordnen und zu erklären. In schriftlichen Texten nehmen Autoren diese Rückfragen vorweg, indem sie an bestimmten Stellen einordnende Erklärungen darüber installieren, was in welchem Zusammenhang womit steht, indem sie also strukturierend auf den eigenen Text Bezug nehmen. Genau diesen Ebenenwechsel aber, die Verdopplung des eigenen Textes als erläuternde, kommentierende, situierende Begleitung seiner selbst, suchen wir bei nahezu Hellinger vergeblich. Hellinger agiert in der Regel nicht als Kommentator des eigenen Werkes.
Damit bricht zum Teil eine Form sprachlicher Interaktion weg, die uns so selbstverständlich ist, daß wir ihren Wegfall oft erst auf den zweiten Blick bemerken. Wir sind es nicht gewohnt, ohne Selbstreferentialitäten, ohne Selbsterklärungen zu kommunizieren, und dort, wo wir solchen Strukturen begegnen, entsteht leicht die Tendenz, Erklärungen, also Meta-Ebenen zu erkennen, wo gar keine sind. Ein solcher Purismus ist ungewohnt, mitunter schwer zu ertragen, und es ist genau diese Verwirrung und dieses Ärgernis, das die Hellinger-Rezeption kennzeichnet.
Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Schuldfragen im moralischen Sinn. Es geht um den Nachvollzug von Gründen, es geht um die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten. Denn so zu schreiben und zu sprechen, wie Hellinger es tut, ist per se kein verwerfliches Unterfangen. Schließlich gibt es Effekte, die in besonderer Weise von einem solchem Diskurs ermöglicht werden, und sich für solche Effekte zu entscheiden, ist eine strategische Frage des eigenen Weges.
Wir hatten das hohe Maß an Wirkung als einen solchen Effekt beschrieben und glauben in der ungebrochenen Operabilität des Diskurses ein zentrales Motiv Hellingers zu erkennen, warum er sich des Kommentars enthält. Wie gesagt, es ist eine Entscheidung. Eine Entscheidung für etwas Bestimmtes und als solche zwangsläufig immer auch Ausschluß von etwas anderem. Im vorliegenden Fall ist der Preis, den Hellinger zahlt, die Unmißverständlichkeit, die Chance also auf eine wesentlich unzweideutigere Lektüre: Wer nicht sagt, wie er verstanden werden will, geht eben das Risiko ein, mißverstanden zu werden; wer nicht einordnet, wie er bestimmte Dinge meint, riskiert eine breites Meinungsspektrum, das sich je im vermeintlichen Einklang mit dem Gesagten, Geschriebenen wähnt.
Grenzen
Und zugleich produziert derjenige, der sich auf diese Weise der Kommentierung entzieht, ein breites Heer an Kommentatoren und Auslegern. Die Strategie, sich die eigene Textimmanenz ohne zirkuläre Schleifen selbstexegetischer Rekursionen zu bewahren, provoziert an anderen Stellen geradezu einen diesbezüglichen Nachholbedarf und sichert so ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.
Die eigene Verknappung schlägt also unversehens um in die Vermassung des eigenen Textes an anderen Orten, durch andere Schreiber, Sprecher – man bleibt im Gespräch. Allerdings hinter einer Grenze, denn die selbsternannten Ausleger und Kommentatoren sind weder in ihrem Eifer gerufen und sanktioniert, noch haben sie je die Chance in einen auch nur ansatzweise paritätischen Dialog mit dem Text zu treten. Hier spannt sich eine grundsätzliche Grenze auf, insofern der Text sich als eigentliches Gegenüber entzieht: Ein Text, der als reine Wirkung angelegt ist, ist als solcher a-dialogisch; er ruht in vollständiger Selbstgenügsamkeit, insofern sein Adressat in einem sehr speziellen Sinn übersehen wird. Denn dort wo ein Text, schriftlich oder mündlich, sich nicht selbst verortet und erklärt, antizipiert er auch nicht seine stets in ihm angelegte Fragwürdigkeit. Er agiert monologisch, weil er in Bezug auf die Verstehensmöglichkeit den Leser/Hörer nicht in sich abbildet, weil er anders ewendet nicht auf die Bedürftigkeit des Lesers/Hörers eingeht. Und dort, wo ein solches Vorgehen konsequent durchgehalten wird, zementiert sich zwischen den nunmehr uneigentlichen Dialogpartnern über die Grenze hinweg ein Gefälle. Ein Gefälle, das sich zunächst als ein kommunikatives darstellt, denn die Rollenverteilung ist klar nach aktiv und passiv geschieden. Die eine Seite agiert, die andere reagiert, Rückwirkungen sind hier nicht vorgesehen, und das Wirkungsgefälle läuft klar in eine Richtung.
Zusätzlich produziert dieses Muster ein Gefälle ganz anderer Art, das wir als ein habituelles fassen möchten: Wer sich in der skizzierten Form monologisch in den Diskurs stellt, wer sich in kommunikationstechnischer Hinsicht solcherart unübersehbar positioniert, um sich im gleichen Zuge von seiner Umgebung deutlich abzugrenzen, der überantwortet sich im Hinblick auf Auslegung und Verstehen zwar schonungslos seiner Umgebung, doch nimmt er dieser zugleich auch die Möglichkeit, seiner je “habhaft” zu werden. Hier nährt ein wesenhafter Entzug eine Position, die sich trotz der genannten Rückhaltlosigkeit und trotz des eingegangenen Verstehensrisikos in einem anderen Sinn vor der Umgebung vollständig verschließt.
Derjenige, der so da steht, spielt nach eigenen Regeln und erweckt damit schnell den Verdacht, die Regeln der anderen zu mißachten, wenn nicht gar die andern selbst. Und dort, wo sich ein so geartetes habituelles Gefälle markieren läßt, umfriedet sich derjenige, der in dieser Schieflage oben steht, mit einer Mauer der Unerreichbarkeit, hinter der er die isolierte Existenz eines Unberührbaren führt. Und zwar vollkommen unabhängig von den jeweiligen Inhalten seines Textes, denn diese Unzugänglichkeit ist das strukturelle Produkt eines bestimmten textuellen Ausdrucksverhaltens.
Diese Struktur aber ist das strategische Grundmuster, mit dem sich selbsternannte Eliten von ihrer Umgebung abgrenzen. Ganz gleichgültig in welchem inhaltlichen Bereich lassen sich auf diese Weise Herrschaftsansprüche manifestieren, da der Habitus des “Nimm und friß – oder stirb” einer sicheren diskursiven Einbahnstraße folgt.
Ausdrücklich möchten wir festhalten, daß wir Hellinger nicht unterstellen, seine Vorgehensweise gewählt zu haben, um auf diese Weise ein herrschaftssprachlich gestütztes Regime auszuüben. Unser Eindruck ist vielmehr sein unbedingtes und unausgesetztes Interesse an der Wirkung des Wortes. Diese Wirkung schmälert sich ja in der Tat, wenn die Aussage sich verdoppelt, wenn die Selbsterklärung den Fokus notwendigerweise erweitert und so Aufmerksamkeitsräume über das eigentliche Zentrum hinaus eröffnet. Wer dagegen ein Höchstmaß an Konzentration auf die Sache selbst generieren möchte, der kann an solchen Schnittstellen zur Ablenkung und Defokussierung keinen Gefallen finden und wird sie tunlichst vermeiden. Tut er dies, dann entscheidet er sich.
Unseres Erachtens hat Hellinger hier eine klare Entscheidung getroffen, und an dieser Entscheidung ist nichts Anrüchiges, Verwerfliches oder Hypertrophes. Wer sich aber in der von ihm präferierten Weise entscheidet, der muß sich immer auch gewahr sein, welche instrumentellen Einsatzmöglichkeiten er dabei im Anschlag hält. Bewußt wählen wir diese Metapher, denn das Instrument, das Hellinger im Anschlag hat, läßt sich eben auch als Waffe gebrauchen.
Verantwortung
Nach all dem, was wir bisher zusammengetragen haben dürfte allerdings deutlich geworden sein, daß wir diesbezüglich nicht den geringsten Zweifel an Hellingers persönlicher Integrität hegen. Explizit: Wir glauben nicht, daß Bert Hellinger auch nur in entferntester Weise an Selbststilisierung, Entrückung und Unantastbarkeit interessiert ist. Wir sagen dies deswegen so deutlich, weil wir ebenso deutlich erkennen, daß der Habitus und Modus seiner Verlautbarung strukturell der Diskurs des “Verführers” ist. Unter diesem Damoklesschwert bewegt sich Hellinger, obgleich seine Person ganz gewiß, aber auch sein Text – gewährt man ihm denn eine hinreichend geduldige und gewissenhafte Lektüre – hier über jeden Zweifel erhaben ist.
Ganz im Gegenteil scheint neben der Verdichtung des Textes auf Wirkung hin das zentrale Motiv für die von ihm gewählte Figuration des Textes eine in dieser Form selten zu findende und ganz spezifische Art der Achtung der Würde des anderen zu sein. Hier ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, daß Würde bei Hellinger unlösbar mit Verantwortung verbunden ist, somit jede Form der Abund Übernahme von Verantwortung (von Seiten Dritter) immer schon die Würde des Einzelnen berührt.
Erklärungen und unterstützende Selbstinterpretationen, so ließe sich aus dieser Perspektive ergänzen, wären dann eben Formen der Übernahme von Verantwortung, wären damit Unterminierungen der Würde des Lesers/Hörers: Wer glaubt als Sprecher je schon seine Rede erläutern zu müssen, spricht seinem Gegenüber auf subtile Weise die Fähigkeit zu verstehen ab.
Ganz auf dieser Linie liegt dann auch Hellingers pointierter Hinweis, das eigene Schauen und Beobachten nicht hinter der rein rezeptiven Übernahme von anwendungstechnisch aufbereiteten Lehren und Fertigkeiten zu vernachlässigen: Ein Schüler wird nie ein Meister, heißt es bei ihm in kondensierter Form, und ein Meister war nie Schüler. In dieser Aussage formuliert Hellingers die Aufforderung das Schauen und Wahrnehmen in das Zentrum zu rücken: Der Meister ist Meister, weil er auf dem Weg dorthin geschaut und nicht gelernt hat; so war er nie Schüler. Der Schüler, der nicht schaut, sondern lernt, wird aus dieser Abhängigkeit nicht heraustreten und immer Schüler sein.
Letztlich begegnen sich hier die Lehr- und Lernbegriffe, wie sie eine asiatische und eine europäische Tradition in ganz unterschiedlicher Weise hervorgebracht haben. Einerseits das asiatische Modell des unangeleiteten Beobachtens, auf der anderen Seite das abendländische Modell, das in der komprimierten Vermittlung vorsortierter Lerninhalte besteht.
Die Gründe, sich hier für oder gegen ein Modell zu entscheiden, greifen tief in philosophische Grundpositionen. Hellinger scheint an dieser Stelle dem asiatischen Modell zuzuneigen, insofern es seinem Begriff von Freiheit, Verantwortung und Würde entgegen kommt: Das gemäße und rechte Verstehen liegt ganz in der Verantwortung des Einzelnen, dessen Autonomie an keiner Stelle durch unterminierende Eingriffe des Lehrers getrübt wird. Alles, was gelernt wird, wird aus der eigenen Beobachtung, Entzifferung und Aneignung des vom Lehrer Vorgeführten gelernt.
Zum einen ist es wie gesagt eine Frage der philosophischen Grundentscheidung, ob Erklärung, Erläuterung, abkürzende Unterstützung überhaupt als Ein- und Übergriff auf das andere Subjekt gelten muß, ob Anleitung überhaupt als Defizit-Phänomen im Kontext von Autonomie, Freiheit, Verantwortung und Würde gesehen werden muß.
Zum anderen aber, und dies richtet sich auf die pragmatischen Konsequenzen, ist es die Frage, inwieweit der von Hellinger eingeschlagenen Weg der Lehre unter den Bedingungen des okzidentalen Diskurses überhaupt gangbar ist. Wobei Gangbarkeit an dieser Stelle nicht die generelle Erfolgsmöglichkeit meint, sondern in unserem speziellen Kontext psychotherapeutischer Methodik als die grundsätzliche Verantwortbarkeit verstanden werden muß: Ist es zu verantworten, eine wirkungsvolle Methode der Psychotherapie im Sinne der asiatischen Lehrtradition allein vorzuführen, ganz im Vertrauen darauf, daß die Gewissenhaftigkeit der Schüler sie davor schützt, die Methode “vor der Zeit” anzuwenden? Kann man berechtigterweise davon ausgehen, daß die abendländischen Schüler den Prozeß ihres beobachtenden Aneignens in einer Zeitdimension ansetzen, die auch nur ansatzweise den Maßstäben fernöstlicher Lernzeit ähnelt?
Wohl kaum. Und dies ist keine bloße Vermutung, sondern die nüchterne Kenntnisnahme, an wievielen Instituten, auf wievielen Seminaren und Workshops längst mit der Methode Hellingers gearbeitet wird. Hier also torpediert auf einer sozio-kulturellen Ebene die abendländische Tradition den Anspruch, ohne eigene, das heißt ohne aktive und didaktisch konzipierte Vermittlungsleistungen, eine Methode vorzustellen. Der kulturelle Kontext erweist sich (neben allerlei ganz profanen Interessen und Marktbedingungen) als zu mächtig, als das auf diesem Boden das Lehrideal der reinen Vorführung sinnvoll angesetzt werden könnte. Auch in dem Fall, in dem Hellinger seinem eigenen Selbstverständnis nach überhaupt nicht als Lehrer fungieren möchte, er einfach nur tut, was er als Therapeut zu tun hat – die Wirklichkeit hat ihn längst überholt, die normative Kraft des Faktischen hat ihn längst zum Lehrer gemacht.
Dies zu übersehen wäre sträflich, und das Festhalten an einem Lehr- und Lernbegriff, der dieser Realität nicht mehr korrespondiert, ist eine schwerwiegende Entscheidung.
Mehr noch, es ist auch gar nicht notwendig, einen solchen Standpunkt einnehmen zu müssen. Wir zumindest halten nicht an dem Lernmodell Hellingers fest. Wir glauben weder, daß die Würde des Einzelnen in der angeleiteten Unterweisung leidet, noch gehen wir davon aus, daß nur das in vollkommener Autonomie ausgeübte Beobachten so etwas wie Meisterschaft ermöglicht.
Neben diesen grundsätzlichen Entscheidungen, lautet in unserm Kontext dann die Schlüsselfrage: Ist das Instrument der Familienaufstellung, ist das Arbeiten mit der Hellingerschen Methode gemäß den Begriffen der abendländischen Lehr- und Lerntradition überhaupt ein möglicher Gegenstand? Ist es im Rahmen einer vermittelnden Anleitung möglich, Therapeuten von hinreichender Übung und Schulung in adäquater Form in die Lage zu versetzten, die aktuelle Wirklichkeit eines Klienten zu entbergen? Oder knüpft sich die Fähigkeit des freilegenden Blickes ganz und gar an die besondere Begabung, Erfahrung und damit an die Person Bert Hellinger? Ist das Verfahren also transponabel, ist es überhaupt lehr- und lernbar?
Wir sind davon überzeugt und nicht zuletzt deshalb haben wir dieses Buch geschrieben.