Das nachfolgende Beispiel für ein existential-analytisches Coaching-Gespräch entstammt einem Trainer-Kurs von Klaus Grochowiak. Im Zuge der Eröffnungsrunde, in der jeder mitteilte, wie es ihm seit dem letzten Mal ergangen ist, teilte ein Teilnehmer (J.) ein irritierendes Verstimmt-Sein mit. Das nahm der Trainer zum Anlaß, um das Phänomen des Gestimmt-Seins und Verstimmt-Seins im Sinne der existentialen Analytik als Formen des In-der-Welt-Seins zu analysieren und zu beschreiben. Am Nachmittag desselben Tages führte der Trainer mit dem Teilnehmer dann ein Gespräch, in dem dieses Verstimmt-Sein exploriert wurde.
Prolog:
Joachim Castella: “Meine gegenwärtige Verfassung ist eher ein Verwirrungszustand. Ich kann noch nicht mal sagen, daß was Konkretes vorgefallen oder passiert ist in der zurückliegenden Zeit. Es waren seltsame Entfremdungserlebnisse. Es war so etwas, wie eine De-Realisierung. Ich saß da, und merkte, irgendwie ist etwas anders, irgendwas stimmt hier nicht. Das subjektive Empfinden, alles war gleich, aber so wie es war, war es mir irgendwie fremd. Ich weiß gar nicht was es ist, es war eigentümlich. Wenn sich früher diese Veränderungssachen auf mich richteten, dann dachte ich, der Kontext ist in Ordnung, der Rahmen stimmt, nur ich habe meine Macken, und es scheint jetzt irgendwie umgekehrt zu sein, daß ich da zu mir gefunden habe, aber der Kontext paßt nicht mehr.”
Klaus Grochowiak: “Das ist der Preis, den man dafür zahlt.”
Joachim Castella: “Das ist auch schmerzhaft. Was ist denn jetzt das Eigentliche. Ist das jetzt ein Kontextwechsel oder ist das mein Ding. Hab ich etwas, wo ich nicht drankomme, wenn ich verwirrt bin. Mein inneres Empfinden ist, es ist schon in Ordnung, nur ich sehe es anders. Es kommt mal an die Oberfläche und ich frag mich: Was ist hier eigentlich los? Es ist sehr befremdlich. Die Umgebung ist wie immer, aber in mir ist etwas ganz anders.”
Das Phänomen des Gestimmt-Seins
Das Phänomen des »Gestimmt-Seins« ist etwas anderes als »Gefühle haben«, und eine Überlegung von mir war: Wie würde ich denn mit einem »Verstimmt-Sein« arbeiten. Würde ich das genauso machen, wie sonst auch, oder muß man da anders vorgehen.
Meine Idee war: Man muß anders vorgehen. Ich habe mir einen fiktiven Klienten vorgestellt, und überlegte, wie dieser reagieren würde. Und meine erste Vorstellung von diesem Klienten war, daß er in einer ungewohnten Gestimmtheit ist, ein Metagefühl dazu hat, von Irritation: “das ist nicht richtig, das ist schlecht, das müßte eigentlich weg, so gehört sich das nicht,” usw. – und dann hatte ich eine Assoziation was ich dem sagen würde:
Es liegt hier ein vorschnelles Bewerten vor, weil im voreiligen Bewerten von etwas, als nicht gut, nicht richtig, nicht stimmig, scheint mir ein kindlicher, ängstlicher vorlaufender Gehorsam zu sein, der sich darum bemüht, ein Gestimmt-sein sicher zu stellen, was stimmig ist mit seiner Umgebung. So wie er aber merkt, daß er da herausfällt, ist seine Bewertung: Das dürfte eigentlich nicht sein. Sozusagen ein negativer Affekt gegen diesen Zustand. Dahinter steckt eigentlich eine kindliche Ängstlichkeit, so daß man sagen kann:
Der erste Schritt wäre gegenüber diesem Gestimmt-sein eine Position einzunehmen, der absoluten Abgrenzung von allem anderen. So fühle ich mich jetzt, das ist weder gut noch schlecht, sondern in diesem Gestimmt-sein, drückt sich mein Zur-Welt-Sein aus, und das will mir irgendwas sagen, und ich weiß noch nicht was, und jede voreilige Interpretation, dessen was mir da gesagt werden soll, oder was sich durch mich in mir ausdrückt und nach einem sprachlichen Ausdruck sucht, oder nach einem mentalen Verstehen, – ist etwas, was nicht etwas über mich aussagt, was auch nicht etwas über die Welt aussagt, sondern wie ich mich in die Welt einfüge und sich die Welt um mich fügt. Und wenn das aus den Fugen geraten ist, verändert sich eben diese Gestimmtheit.
Dieses aus-den-Fugen-geraten sagt noch nicht, daß die Welt nicht richtig ist, der Mensch nicht richtig ist, es sagt erst mal vielleicht etwas darüber aus, daß sich die Möglichkeit einer Erschlossenheit des Da-Seins eröffnet, die vorher in dem fraglosen Eingefügt-sein in die Umgebung überhaupt nicht möglich war. Diese Entschlossenheit zum eigenen Dasein entsteht erst, wenn man aufs Ganze geht. Aufs Ganze der eigenen Existenz, aufs Ganze der Welt, in der man lebt. Das führt zu einer radikalen Vereinzelung, und das ist schon mal ein riesiger Schritt. Daraus folgt erst mal: Hier gibt es nichts therapiewürdiges, im Sinne daß man hier etwas Krankes, Verschobenes, Traumatisiertes, – gesund machen müßte. Denn das würde ja einen großen seelischen Entwicklungsprozess analog zu einem Krankheitsprozeß definieren, wovon nach meinem Verständnis dieser Situation gar keine Rede sein kann.
Hier geht’s eher darum, daß sich zwei Menschen redend dessen vergewissern, was hier gerade passiert. Also eher so eine Art Selbstvergewisserungs-Prozess, in dem der andere, durch sein Zuhören und durch seine Aufmerksamkeit sicher stellt, daß man nicht im Kreis geht, daß man nicht ständig seinem blinden Fleck ausweicht, daß man aber erst mal von der Notation weg muß; es geht hier um Therapie.
Was zu dem paßt, was ich »Große Therapie« nenne, womit ich die kleine Therapie nicht abwerten möchte. Kleine Therapie ist notwendig und bleibt notwendig. Das ist die Therapie, die Menschen hilft ein kleines Symptom, mit begrenzten Ausmaßen zu überwinden und ein ressoursvolleres Verhalten zu entwickeln. Die »Große Therapie« ist dazu da, Menschen zu helfen in Lebenskrisen, eine Reorientierung zu finden: Worum gehts jetzt in meinem Leben in der Phase, in der nächsten Etappe, und dafür haben eben rein ressource-orientierte oder symptom-orientierte Betrachtungsweisen nicht die Trag- und Reichweite, und das eröffnet eine Klasse von “Problemen”, die auch jenseits der Systemischen Familientherapie liegen. Das hat auch nichts mit NLP zu tun. Das hat damit was zu tun, was es überhaupt bedeutet »Da-zu-sein«, in einer Welt zu sein, und sich in dieser Welt selbstverstehend, die Welt verstehend, weiter zu entwickeln, und die Krisen, die in diesem Entwicklungsprozeß entstehen, sind normale Wachstumskrisen.
Ich würde es als Gnade erachten, wenn man eine dieser Krisen einmal erlebt. Viele Menschen haben nicht das Glück, viele von solchen Krisen erleben zu dürfen, weil sie so mit dem Überleben in der Alltäglichkeit beschäftigt sind, daß sie so eine Form existentieller Verunsicherung nie erleben. Ich nenne dies »Die Gnade des Problems«.
Also bei bestimmten Problemen kann man froh sein, wenn man sie irgendwann mal haben darf, darin zeigt sich erst eine bestimmte Art von Lebendigkeit, daß diese Art von Krisenhaftigkeit der eigenen Existenz überhaupt entstehen kann. Ich folge hier der Idee, daß es eine Tiefendimension von Therapie gibt, die weder in den Kurzzeittherapeutischen noch in den Systemischen Ansätzen überhaupt thematisch wird, geschweige denn, daß es dafür irgendwelche Techniken gibt. Das ist ein Therapie für die ganz wenigen (bisher!), die sich den Luxus existentieller Krisen leisten. Aber dahinter steckt die Idee, vielleicht ist manchmal eine richtig tiefgreifende existentielle Krise, das was es braucht, statt Entfremdungsoptimierung. Manchmal kann Therapie auch den Effekt haben, daß sie zu einer Art Entfremdungsoptimierung führt, dazu daß man das Entfremdet-sein erträglich findet, und das war natürlich nie mein Ziel. Ich hatte immer einen Blick darauf, daß Therapie nicht Opium für die Seele wird.
Es geht für mich darum eine Form von existentieller Tiefendimension zu erreichen, die traditioneller Weise von Religion und esoterischen Wegen angestrebt wird, aber im Regelfall nicht erreicht wird, weil sie durch billige, märchenhafte Erklärungsversuche überdeckt wird. Aber mit dieser Form von billigem Trost hatte ich es nie. Das hat aber nicht dazu geführt, daß ich den ganzen existentiellen Bereich, der da in Frage steht, einfach als unsinnig abtue. Einer der Gründe, warum ich überhaupt angefangen habe mich mit Psychotherapie zu beschäftigen war meine tiefe Enttäuschung von der Esoterik. Ich war enttäuscht, weil ich dachte, das ist doch einfach nur Geplapper.
NLP war zumindest etwas, was funktionierte. Und nun, nach einem zehnjahres-Zyklus nähere ich mich meinem ursprünglichen Thema wieder an, und habe dafür das Wort »Existenziale Analytik« erfunden, eine Art der Da-Seins-Befragung, die uns mit einer Ebene des »In-der-Welt-Seins« in Berührung bringt, die durch normale psychotherpeutische Befragung nicht erfragt wird. Desweiteren gibt es bei dieser Befragung keine vorgefaßten religiösen, spirituellen Vorannahmen wie: es gibt ein Leben nach dem Tod, eine unsterbliche Seele, Gott usw., sondern es wird der phänomenale Bericht dessen, was unmittelbare Wirklichkeit ist, die unmittelbare existentielle Wirklichkeit zur Sprache gebracht. Zum Beispiel das Verstimmt-sein. Das man, mit einem ganz radikalen Sich-aussetzen dessen, was da tatsächlich passiert, und alles von allen Seiten beleuchtet, ohne schon zu glauben man weiß worauf das hinausläuft, wo es herkommt und was es bedeutet. Also in der Bodenlosigkeit der Fragesituation zu bleiben, und sich die Frage nicht dadurch zu erleichtern, daß man sich einen imaginierten Boden einzieht; z.B. eine naturwissenschaftliche Weltanschauung, irgendeine überkommene Religion, die man eben von den Eltern übernommen hat, also irgend eine Art Sicherungsseil, wo man sagt: Wenn alle Stricke reißen, also das ist gewiß. Sondern man geht eher davon aus, das all das Gegenstand einer neuen Erfahrung werden kann. Und das empfinde ich gleichzeitig als eine Form von ganz tiefer De-Hypno-Therapie, man geht aus allen tiefen Realitätshypnosen: was ist mein Körper, was ist Seele, was sind meine Gefühle, was ist überhaupt ein Gedanke, was sind zwischenmenschliche Beziehungen, hinaus. Diese Dinge stellen eine Art Realitätshypnose dar. Man nimmt diese hypnotischen Wirkungen als das was sie eben sind und hinterfragt sie von allen Seiten. Dieses Erfragen wird als feld sense erlebt. Es handelt sich nicht um ein rein intellektuelles befragen, daß ist eben nicht Existenziale Analytik. Für diese Befragungssituation gibt es keine gesicherte Methode, man weiß nicht einmal, ob es ein Ziel gibt, was es überhaupt bedeutet, nach einem Ziel zu suchen. Bei der Kurzzeittherapie ist es z.B. klar, daß sie zielorientiert ist, man weiß schon, wo man hinwill.
Und es ist klar, es gibt keinen gesicherten Wissensbestand von irgendwelchen Experten, auf die man sich verlassen kann. Man liefert sich der eigenen Existenz, dem eigenen Da-sein soweit aus, wie es eben überhaupt geht, ohne die Vorannahmen, schon zu wissen, wer das ist, der sich da ausliefert, geschweige denn, was das ist, dem man sich ausliefert. Und von dieser Sichtweise aus wären dann zum Beispiel auch bestimmte psychische Probleme noch mal anders verständlich, nämlich als kulturelle Vermeidungsformen bestimmter Befindlichkeiten. Bestimmte Befindlichkeiten sind kulturell so verpönt, daß sie stärker vermieden werden, als schlimmer Schmerz, als große Trauer, als Verzweiflung, die ja allenthalben zu beobachten ist.
Aber es gibt bestimmte Formen von Befindlichkeit, die man nur selten antrifft, und meine Vermutung ist, weil sich in dieser Gestimmtheit auf einer ganz tiefen Ebene im Individuum eine Krise bemerkbar macht, eine Krise erlebbar wird, die schon so die Krise unserer gesamten Zivilisation ist, also Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit, und Bedrohung durch Atomwaffen. All das hat ja seine Bedingung der Möglichkeit in uns, und daß es in uns eine Ebene gibt, die wir meiden wie der Teufel das Weihwasser. Und solange wir mit dieser Ebene nicht in Berührung sind, stehen wir der Lösung möglicher Probleme, in einer völlig fatalistischen Hoffnungslosigkeit gegenüber, oder nutzen ad hoc gestrickte Patentrezepte, oder verfallen in eine naiv-kindliche Form von Religiosität, die darauf hinaus läuft es kommt Hilfe von oben. Dieses “Oben” ist nur ein anderer Name für “die Eltern machen das schon”. Und die Eltern sind dann eben immer die anderen, die weiseren, größeren Leute als man selbst, und was man dabei eben vergißt, daß die, die die Eltern spielen könnten häufig kindlicher sind, als man selbst. Also Clinton oder Kohl als Übervater, das kann man heute nicht mehr wirklich glauben.
Wir leben aus einer Befindlichkeit heraus, “die machen das schon”.
Da ist mehr eine Ahnung da, als ein konkretes Wissen, das läuft auch nur sehr partiell darauf hinaus, was man jetzt klassische Psychotherapie nennen könnte.
Das ist auf der anderen Seite auch nicht etwas, was im klassischen Sinne eine esoterische Schulung, wie z.B. Zen-Buddhismus ist, wo man Exerzitien macht, um bestimmte Zustände zu erreichen, sondern mir scheint es eher so zu sein, wie das, was Sokrates gemacht hat. Man mischt sich unters Volk, und stellt Fragen, die ein Gespräch eröffnen, indem das in Frage steht, was uns oft allzu fraglos als Grundlage unseres Selbst- und Weltverständnisses erscheint. Man fragt nicht um den anderen vorzuführen, weil man meint der weiß es schon, sondern es geht eher um den gemeinsamen Prozeß der Reflexion, des Infragestellens, um Besinnung in Gang zu setzen, wo überhaupt nicht klar ist, was dabei herauskommt, und jeder ist auf seine Art ein Experte aber genauso Dilettant. Also es gibt da gar keine Experten.
Es gibt nur Leute, die unterschiedlich mutig sind beim Fragen. Aber darin wiederum könnte man Leute unterstützen, eine bestimmte Art von Fragen zu erlernen. Und jetzt könnte man leicht denken: Ja gut, dann schreib doch diese mutigen Fragen auf, und dann probier ich die aus. Das hab ich auch gemacht. Man kann die mutigste Frage auf eine Art und Weise stellen, daß ihre Beantwortung und das Stellen der Frage weder Mut, noch besonderen Tiefgang erfordert. Um diese Fragen auf eine bestimmte Art stellen zu können, muß man in einer bestimmten Verfaßtheit sein. Also die Fragen selbst sind keine geheimnisvollen Fragen, die dann in einer nächtlichen Zeremonie weitergegeben wird, und nur wenige Auserwählte kennen diese geheime Frage. Diese Fragen sind in einem gewissen Sinne faßt banal, und man kann sie eben ganz banal beantworten. Aber in einer anderen Gestimmtheit sind sie enorm erschütternd. Also wäre dann die Frage: Was kann man denn dafür tun, diese Art von Gestimmtheit herzustellen?
Das setzt aber voraus, daß es überhaupt darum geht, diese Gestimmtheit herzustellen, und die Frage ist: Woher weiß ich denn, daß es darum geht?
Vielleicht geht es darum, zu warten, bis sich diese Gestimmtheit einstellt. Und wenn sie sich einstellt, stellen sich damit diese Fragen vielleicht ganz von alleine ein, so daß man sagen muß: Warum muß ich daraus jetzt wiederum etwas Öffentliches machen? Vielleicht kann ich das auch nur für mich machen. Das wiederum zugänglich zu machen, setzt ja schon voraus, daß ich wüßte, daß das der Sache gemäß ist. Es könnte sich ja herausstellen, daß das etwas ist, dem es nicht gemäß wäre veröffentlicht zu werden. Entweder kommt man drauf, dann ist man sowieso schon da, oder man kommt nicht drauf, dann kann man damit sowieso nichts anfangen.
All die selbstverständlichen Präsuppositionen im therapeutischen Vorgehen, wie z.B.: es versteht sich von selbst, keine Schmerzen zu haben ist besser, als Schmerzen zu haben, sich wohl zu fühlen, ist besser, als sich schlecht zu fühlen, und ressourcevoll zu sein ist besser als nicht ressourcevoll zu sein. Wer würde das leugnen, ich jedenfalls nicht. Und so gibt es eine Reihe von selbstverständlichen Vorannahmen therapeutischen Handelns und Fragens, wo überhaupt nicht sicher ist, ob das der Fragerahmen ist, der für diese Art von existentieller Analytik überhaupt sinnvoll ist, und man könnte ja jetzt all diese Vorannahmen hinterfragen mit der ganz einfachen NLP-Frage: Woher weiß ich das?
Es geht darum eine bestimmte Art von unhinterfragter, kultureller Selbstverständlichkeit in den fundamentalsten, verhaltensmäßigen, und erlebnismäßigen Präsuppositionen des »In-der-Welt-Seins« zu machen. Das heißt: Jede Kultur bringt, als Kultur, eine bestimmte Form des »In-der-Welt-Seins« hervor. Und die naive Form ist einfach die Vorstellung: So wie ich mich in der Welt fühle, so ist es. Und wenn sich Kulturen weiter entwickeln und sich begegnen, da kommt man an den Punkt, daß man feststellt: Ja andere sind ja auf eine ganz andere Art in der Welt. Also, das »in-der-Welt-sein« eines Aborigines, eines Börsenmaklers in New York, oder eines Eskimos, oder eines Beduinen, kann man nicht ernsthaft sagen, daß die auf der gleichen Art und Weise in der Welt sind. Und in einigen Kulturen ist es eben so, daß jedenfalls für die allermeisten Mitglieder diese Art des »In-der-Welt-Seins« selbstverständlich, völlig unhinterfragt stimmt und fertig. In vielen Hochkulturen, wie unserer zum Beispiel, aber ich denke nicht nur in unserer ist es so, daß eine Art Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeiten so zu sein wie man ist, stattfindet. Und dann gibt es eine Art kultureller Interpretation, was das eben bedeutet. Und in großen kulturellen Umbruchsphasen, wie von der Antike zum Mittelalter, vom Mittelalter zur Neuzeit, von der Moderne in die Postmoderne, findet auf einer ganz tiefen Ebene eine Umorientierung der Kultur statt, was es überhaupt bedeutet auf eine bestimmte Art in der Welt zu sein, und ich hab mir zum Beispiel mal überlegt: Für das ganze Mittelalter war völlig klar, für jeden Menschen, auch wenn er noch so häretisch veranlagt war, das ist hier nur eine Übergangsstation.
Wenn ich tot bin, komm ich in den Himmel, in die Hölle oder in das Fegefeuer. Wie es mir da geht, hängt davon ab, was ich hier mache, und was sündig ist, und was nicht, ist völlig klar. Und dann muß man sich vorstellen, als für immer mehr Leute klar wurde: Die Story, die uns da erzählt wird, ist bei weitem nicht sicher. Die Leute, und die, die uns diese Story erzählen, haben keinerlei Evidenz über die Richtigkeit dieser Geschichte, die über unsere eigene Evidenz hinausgeht. Als Luther die Bibel übersetzte, wussten die Leute: In diesem Buch stehen ja nur Stories, wovon einige sehr fragwürdig sind, und die Priester haben außer diesem Buch kein Wissen, und wenn sie es haben in irgendwelchen mystischen Erlebnissen, dann kann es jeder haben. Erlebnisse kann man, wie jeder weiß, sehr unterschiedlich interpretieren.
Und dann entstand diese große neuzeitliche Krise: Vielleicht sind wir so eine Art Nebenzweig der Evolution auf irgendeinem kleinen Planeten, am Rande einer völlig durchschnittlichen Milchstraße, irgendeine Spezies, die ein paar Millionen Jahre existiert, dann gibt es einen größeren Meteoriteneinschlag, dann sind wir weg, so wie die Saurier auch. Und das hat keine übergeordnete Bedeutung, niemand weint uns eine Träne hinterher, und das war’s. Und irgendwie ist klar, daß wir an einer Schnittstelle sind, wo zumindest in den hochindustrialisierten Ländern, wir diese ganzen verschiedenen Weltentwürfe, die es auf dem Globus gibt, mehr oder weniger gut kennen, und wo wir, wenn wir Lust haben wie eine private Marotte, irgendeine viertausend Jahre alte Religion übernehmen können, ob Hinduismus, Judaismus, oder was auch immer. Oder wir können uns unseren privaten Esoterikmix zusammenstellen. Ein bißchen Buddhismus mit ein bißchen Sufismus, aber natürlich, christliche Nächstenliebe soll schon sein. So baut sich jeder was zurecht. Und andere machen Quantenmechanik und Mystik oder so. Jeder macht so seinen Privatmix, aber im Grunde genommen ist klar, zwischen totaler Ernüchterung der Neuzeit, und den alten esoterischen, religiösen Bedürfnissen aus dem Mittelalter und davor, ist so ein tiefes Reorientierungsbedürfnis da, was es denn überhaupt bedeutet »Mensch« zu sein.
Mein Eindruck ist, ein großer Versuch ist eben die Orientierung von Außen zu holen, aus alten Religionen, aus der Naturwissenschaft, oder woher auch immer. Die Frage ist, ob dieser Blick nach Außen, der kulturellen und geistigen und seelischen Situation, in der wir uns als Menschen in der Moderne befinden, überhaupt angemessen ist.
Die Frage ist doch: kann uns ein Weg, der uns »Letztendlichkeitsgewißheiten« über unsere Existenz von außen berichtet, im Innersten befriedigen. Ist eine moderne Seele so organisiert, daß ein über Jahrtausende tradiertes Wissen anderer Kulturen eine seelische Grundlage für unseren Platz in der Welt abgeben kann? Kann durch einen Glauben an eine solche Tradition eine befriedigende Selbstdefinition gelingen, oder ist durch die Art der Übernahme der Weltinterpretation für einen modernen Menschen nicht in der Tiefe seines Wesens schon ein unerbittlicher Zweifel mit gesät, über den man lärmend, meditierend, singend, kiffend sich hinweg trösten kann, der aber in den Tiefen unserer Seele keine Ruhe gibt, so daß wir zu etwas ganz anderem aufgefordert sind.
Die Frage ist: Was könnte das sein?
Coaching-Gespräch Intervention mit J.
Klaus: Also, worum gehts?
Joachim: Ja…mmh, wie Du mir gesagt hast, um eine Existenzkrise. Ich hatte das als krisenhaft oder als verwirrend wohl auch empfunden. Es geht darum, daß ich in der letzten Zeit, den zurückliegenden vier Wochen, ab und an tatsächlich auch ein körperliches Empfinden, ein Gefühl davon hatte, irgend etwas stimmt hier nicht, irgend etwas ist hier anders, obwohl sich eigentlich nichts verändert hat. Ein Entfremdungsgefühl, nicht in dem Sinne, daß ich sag’, da ist etwas, sondern einfach nur wie man sonst schon einmal ein unmotiviertes Angstgefühl, das in einem aufsteigt. Ein unmotiviertes Gefühl, irgend etwas ist hier anders. Irgend etwas läuft hier nicht mehr.
K: Wenn Du mal dieses unmotivierte Angstgefühl, oder unmotiviertes Entfremdungsgefühl, das Gefühl von Fremdheit wahrnimmst, gibt’s da eine Art Metagefühl dazu? Wie geht’s Dir, wenn Du merkst, irgendwie ist das hier alles anders als sonst?
J: Also es ist ein…also erst einmal war ich völlig perplex, weil ich so etwas noch nie gehabt habe. Es war eine Irritation, Überraschung und dann ist es auch ein bißchen beängstigend. Und… ist das jetzt der Weg in die Schizophrenie. Nicht, daß ich das ernsthaft als Perspektive…, fängt so was so an?, fühlt man sich dann so, sind das so (präliminare?) Phasen oder was auch immer? Wo kommt das her ? Was ist das? Was bedeutet das? Eine Verwirrung mit einem beängstigenden Gefühl.
K: Das heißt, es ist so eine Art Befürchtung: Eigentlich dürfte man sich als normaler Mensch so nicht fühlen. Kann man das so sagen?
J: Ja. Also, wenn’s normal läuft, dann ist man kongruent mit der Empfindung oder der Welt, dann ist nichts verschoben.
K: Und wenn Du jetzt einmal für einen Augenblick die pathologisierende Vorannahme beiseite nimmst, und nimmst einfach nur das wahr, was sich tatsächlich abspielt. Nämlich, irgendwie ist das hier anders. Dann hätte ich gerne, daß Du bei Deinem Körper anfängst. Hast Du auch den Eindruck Dein Körper ist anders?
J: Nee.
K: Ist dieses Anderssein etwas, was sich einstellt, wenn Du in die Welt guckst? Wenn Du Dich kinästhetisch ausdehnst, wenn Du hörst? Durch welche Modalität merkst Du primär, da ist was anderes?
J: Es ist irgendwie ein anderes Empfinden im Kopf-, Brustbereich, als wenn etwas um mich herum wär. Nicht etwas Undurchdringbares, aber das habe ich schon gespürt, so ‘ne Einkästelung.
K: Du hast ‘ne Art Einkästelung um Dich herum gespürt, OK. Du hast gesagt, irgendwie ist das da draußen anders, obwohl sich nichts nachweislich verändert hat. Und jetzt sagst Du, Du spürst hier so ‘ne Einkästelung. Wenn Du dieses Anderssein verorten solltest, hast Du den Eindruck es ist in Dir anders, es ist da draußen anders oder es ist zwischen Dir und da draußen anders?
J: Ähm…mehr es ist mein Gefühl, das anders ist. Dieses Vertrautheitsgefühl.
K: OK, also es ist unvertraut. Aber das Unvertraute kommt nicht dadurch zustande, daß etwas neues aufgetreten ist, was Du nicht kennst, sondern das Unvertraute und das Angstmachende an dieser Art von unvertrautheit ist, daß das Vertrauteste unvertraut wird. Kann man das so sagen?
J: Nicht der Dingbezug, daß das Vertraute auf einmal unvertraut ist, sondern das selbstverständliche gar nicht Bemerken… das man einfach so durch die Gegend geht, daß das auf einmal bemerkbar wird… es hebt sich auf einmal heraus… und das ist…
K: Das klingt für mich so, als wenn der unreflektierte Weltbezug auf einmal bemerkbar wird. Und seine alltägliche Selbstverständlichkeit verliert.
J: Als Bild ist es ungefähr so, als wenn ich bewußt anfinge zu atmen. Sonst geht es automatisch und wenn man es bewußt macht, dann paßt es irgendwie nie.
K: Richtig. Aber es geht nicht primär um den Atem, daß war nur ein Beispiel, eine Metapher?
J: Ja.
K: Das heißt, das Vertrauteste wird aus seiner unbewußten Alltäglichkeit herausgenommen, und das Unvertraute ist, nicht das es anders oder neu ist, sondern daß die selbstverständliche Unbewußtheit verloren geht. Kann man das so sagen?
J: Nicht nur, daß es bewußt wird sondern auch, daß es in diesem Bewußtsein auch ‘ne Distanz, ‘ne Veränderung gibt. Es ist nicht nur das reine Bewußtwerden.
K: Sondern?
J: Sondern, sowie es dann bewußt ist, ist es verquer. Es ist seltsam. Es ist anders.
K: Das verstehe ich jetzt noch nicht. Was genau ist anders?
J: Es ist einfach fremd. Es ist einfach nicht mehr meins.
K: Kannst Du mal ein konkretes Beispiel geben?
J: Dieses körperliche Empfinden hatte ich, da saß ich in meinem Büro in der Küche. Ich weiß gar nicht mehr was ich gemacht habe, am Tisch gesessen, glaube ich… auf einmal durchzuckt es mich… da stimmt doch was nicht, nicht bewußt, daß ich sage hier stimmt doch was nicht aber, was ist denn jetzt… und dann gucke ich dann hat das einen kurzen Moment angehalten… also ich weiß, daß alles so ist wie immer, aber irgendwie ist es hier nicht richtig.
K: Bleib’ mal bei diesem Gefühl, irgendwie ist das hier nicht richtig. Und wenn Du bei diesem Gefühl bleibst, irgendwie ist das hier nicht richtig, dann gibt es ja irgendeine Art von Referenz, auf deren Hintergrund sich das bezieht. Sonst kann man nicht sagen, es ist nicht richtig. Also relativ wozu?
J: Zu der Unhinterfragtheit, in der das sonst erscheint.
K: Und wenn Du jetzt mit dieser speziellen Art des Blickes guckst, was begegnet Dir denn eigentlich da draußen?
J: (zögert) Die Dinge an sich. In ihrem Sein. Ohne mich.
K: Das Bild, was mir kommt ist, daß sich das Ganze versagt oder entzieht.
J: Ja.
K: Das heißt, obwohl Du mitten im Ganzen bist, es siehst und hörst und anfassen kannst, hat es sich doch entzogen, nämlich in seiner Bedeutsamkeit für Dich. Kann man das so sagen?
J: Mmh.
K: Gut. Und in dem Moment, wo Du mitten im Ganzen bist, aber das Ganze sich in seiner Bedeutsamkeit für Dich entzieht, was bedeutet das, für den der das wahrnimmt?
J: Also erst einmal produziert es ‘ne Differenz, ‘ne Teilung. Und diese Teilung wirft beide Seiten auf sich zurück. Beide Seiten sind auf einmal losgelöst voneinander, beziehungslos oder in ‘ner anderen Beziehung.
K: Du siehst sie ja noch. Du spürst sie ja noch. Und gleichzeitig ist es aber so, daß Du das Gefühl hast, das Ganze entzieht sich. Also was am Ganzen entzieht sich? Wenn es nicht einfach so ist, daß Du auf einmal einen Totalblackout hast. Könnte man ja auch haben, aber hast Du ja nicht. Du siehst es, hast auch taktile Empfindung und gleichzeitig hast Du den Eindruck das Ganze entzieht sich von mir in seiner Bedeutsamkeit.
J: Was sich entzieht, ist der gesamte vertraute alltägliche Bedeutungszusammenhang. Der war weg.
K: Genau. Wenn der gesamte alltägliche Bedeutungszusammenhang ganz weg ist, was bedeutet das für das Selbsterleben oder die Selbstdefinition desjenigen, der sich immer in diesem Weltzusammenhang und in dieser Weltbeziehung mit definiert hat?
J: Ich kann das jetzt nur als ‘ne große Chance sehen, da wird ja etwas freigelegt.
K: Und was wird da freigelegt?
J: So etwas wie die Trägerschaft dessen, auf dem das Alte aufgesessen hat. Das zieht man ab und es bleibt so ‘ne Kern.
K: Das sagtest Du fast mit einem bisschen was Wegwerfendem?
J: Ja. Ich scheue mich davor zu sagen, dann bleib’ ich über. Weil dieses Ich ist ja auch nur was Relationales. Es ist ein Kernbestand, wie ich den nenne weiß ich nicht. Ob das ein Ich ein Selbst ist, es ist wie der Kern um den die Schale fehlt, den man als Ich oder als Selbst nur immer in dieser Schale kennt. In diesem Verweisungs- und Vernetzungszusammenhang.
K: Selbst wenn man das nicht Ich nennt, könnte man ja sagen: Das Dasein, was Du bist, ist da in mitten von allem. Normalerweise ist man auf eine Weise da, in der das Dasein selbstverständlich, alltäglich, unhinterfragt, automatisiert, halbbewußt abläuft. Und in dem Moment, wo dieses Dasein sich seines Da-Seins bewußt wird, entzieht sich aber das Seiende in seiner Bedeutsamkeit völlig. Aber man wird dabei nicht bewußtlos, man hört nicht auf zu sehen. In einem gewissen Sinne ist alles wie immer und doch ist alles ganz anders.
J: Das trifft es total. Es ist das Dasein ohne das In-Sein.
K: Genau. Und wenn Du da bist ohne das In-Sein, dann entsteht das, was man einen Augenblick nennt. Auf einmal entsteht ein Augenblick, in dem Du dieses Dasein erblickst und es gleichzeitig bist, aber das kannst Du nur erleben, dadurch daß sich das Sein als Ganzes entzieht, ohne dadurch in irgendeinem Sinne weg zu sein. Was sich strenggenommen entzieht, was sich auflöst oder wegfällt ist seine Bedeutsamkeit im alltäglichen Umgang. Dann hörte es ja wieder auf. Und wenn es aufhört, kann es ja auf zwei Arten aufhören. Die eine ist: Du rutschst in die alte Bedeutsamkeit zurück. Das ist vermutlich das, was passiert ist. Aber wenn man einmal aus der alten Bedeutsamkeit ganz draußen war, kommt man nie wieder ganz rein. Ja? Und das kann einem ängstigen. Man kann aber auch etwas anderes sagen. Was wird dadurch ermöglicht?
J: Freiheit.
K: Das sagst Du wieder mit so was Wegwerfendem. Merkst Du das?
J: Ich mag solche großen Worte nicht. Das sind halt solche Worte… Was bedeutet das, zu sagen, das ermöglicht Freiheit?
K: Das können wir ja explorieren. Sagen wir mal unter Vorbehalt, das ermöglicht Freiheit. Und dann kann man ja gucken, wie genau ermöglicht das Freiheit? Oder welche Art von Freiheit wird dadurch ermöglicht?
J: Mhm…
K: Ich würde es noch mal anders sagen. Diese Freiheit ermöglicht sich nicht ganz von alleine. Damit man diesen Zustand als Ermöglichung der Freiheit nutzen kann, muß man noch etwas machen. Man muß sich entschließen, das Dasein zu ergreifen. Was passiert, wenn ich das sage?
J: Ich denke das ist genau der Punkt, um den es sich bei mir dreht, dieses Ergreifen. Das hatte ich am Anfang gesagt. Ich hab’ das Gefühl es muß sich manifestieren. Es muß ein Schritt, was Sichtbares, was dieses Ergreifen für mich nachvollziehbar macht… ja ausdrückt, da sein.
K: Also, du sitzt in der Küche am Tisch und auf einmal geschieht Dir etwas. Du kommst in einen Zustand, indem sich das Sein als Ganzes in seiner Bedeutsamkeit entzieht und Du ein Gefühl von Dasein ohne In-Sein erlebst, was Dich beängstigt, verunsichert und irritiert. Gleichzeitig ist alles wie immer und doch ganz anders. Und irgendwas liegt da ja rum, ein Löffel oder irgendwas. Und wenn Du diesen Löffel jetzt anfaßt, Du guckst den so an, was passiert denn dann?
J: Es ist ein großes Erstaunen. Eine wirkliche Verwunderung.
K: Du hast den Löffel… das ist auf einmal was ganz Großartiges. Daß Du den spüren kannst, daß Du den sehen kannst, daß es den überhaupt gibt… Gut. … Und in diesem Moment ergreifst Du den Löffel, wie Du noch nie in Deinem Leben einen Löffel ergriffen hast und gibst Dich diesem Augenblick hin, solange wie er währt.
J: Es ist wie eine Neugeburt. Es ist ein völlig erstauntes…, aber dennoch… man weiß ja… es hat was neugeburtliches.
K: Es ist eine neue Art des zur Weltkommens. Du kommst zur Welt und die Welt kommt zu Dir auf eine ganz neue Art. Wenn Du auf diese Art, über den Löffel, zur Welt kommst, was kommt denn dann zur Welt?
J: Ich.
K: Ja. Und wenn Du mal spürst… ist dieses Ich oder das, was Du jetzt mit Ich bezeichnest immer noch das Selbe, was Du vorher als Ich bezeichnet hast?
J: Nee.
K: Was ist der Unterschied?
J: Es ist ‘ne unbeschriebene Tafel. Es ist ganz neu.
K: Hast Du den Eindruck dieses Ich ist ganz in Dir drin, in diesem Körper?
J: Ja.
K: Und wo? … Bleib’ mal dabei. Du hast diesen Löffel in der Hand guckst den ganz erstaunt an. Und Du gehst jetzt nicht in eine Metareflektion, sondern Du läßt Dich von dem Offenbarwerden des Löffels staunend ergreifen. Wo bist dann, wenn Du auf diese Art ergriffen bist? … Mein Eindruck ist nämlich nicht, daß Du dann drin bist. … Rein phänomenologisch, nicht ich habe ein Gehirn in meinem Kopf, Du hast diesen Löffel in der Hand und…
J: Es kommt mir fast so vor als gäb’s mich dann irgendwie auch gar nicht. Es ist irgendwie nur so ein Blick, na gut, der kommt irgendwo her, aber es ist trotzdem irgendwie…
K: Ja bleib’ doch mal dabei. Also, Du würdest unsere Arbeit erleichtern, wenn Du diese sehr vorschnellen Abwertungen einfach mal einen Augenblick beiseite läßt. Ja? Dann gibt’s diesen Blick, dieses Erstaunen, aber Dich in Deinem normalem Sinne gibt’s da nicht?
J: Ja.
K: Ja. Das ist dann die Wahrheit dieses Momentes, … dieses Augenblicks. So, dann legst Du meinetwegen den Löffel weg und jetzt merkst Du, was eben passiert ist. Ja? Jetzt setzt so eine Art Reflexion ein: “Huch, wie kommt das? Ich war ganz erstaunt, ergriffen, staunend über so einen Löffel.” Wo bist Du jetzt während Du staunst, daß Du gestaunt hast?
J: Dann bin ich wieder in mir drin…
K: Genau… und darum glaubt man meistens man ist in sich drin, weil wenn man sich bewußt wird wo man ist, ist man in sich drin. Das heißt aber nicht, daß man die ganze Zeit in sich drin war. Nur wenn man nicht in sich drin war und es einem gar nicht gab, hat man nicht gemerkt, daß man nicht drin war.
J: Mmh…
K: Gut, wenn Du jetzt in der Küche rumguckst, ja… was passiert jetzt?
J: Es ist… es ist ganz neutral, weder dieses Befremdliche, noch das Vertraute… es ist ganz neutral kann ich nur sagen. Ja.
K: Mmh. Und wenn Du jetzt auf diese neutrale Art in der Küche rumguckst, wer guckt denn da?
J: Das bin ich.
K: Welches von beiden Ichs? Das staunende Ich über den Löffel, das reflektierende Ich?
J: Das ist auch ein anderes, auch was anderes.
K: Aha,… was ist das?
J: Das ist auch ein Neues, Unbekanntes bis jetzt…
K: Scheint mir auch so. Also, mir fällt… also, ich bin, wie Du vielleicht merkst, ständig in Position zwei, um mitzukriegen was da bei Dir läuft. Wenn ich auf diese Art gemeinsam mit Dir in der Küche bin, dann fällt mir ein Satz von Schelling ein und der heißt: “Im Menschen öffnet das Universum seine Augen.”
J: Also, für das Erstaunen mit dem Löffel finde ich das sehr treffend, weil das hab’ ich nicht, das gucke ich nicht an.
K: Ja, genau.
J: Es kommt mir fast blasphemisch vor, daß durch meine Augen das Universum guckt.
K: Also, nicht nur durch Deine, durch meine auch, … also im Menschen.
J: Aber das ist gut, das ist wirklich… es hat ‘ne ganz befreiende, beruhigende Wirkung, das so zu betrachten oder so zu empfinden.
K: OK.
J: Und zwar eine ganz andere Qualität von Ruhe, als die man sonst… also wenn man sich beruhigt oder so.
K: Es hat damit nichts zu tun.
J: Nee.
K: OK. Was passiert gerade?
J: Also, ich habe diesem Satz nachgehangen: Der Kosmos öffnet sich…, wie ist das?
K: Im Menschen öffnet das Universum seine Augen.
J: Ich habe jetzt so ein bißchen die Unruhe… mmh, was mache ich jetzt damit?
K: Nicht so schnell, nicht so schnell… Also der Teil, der jetzt fragt, was mache ich jetzt damit, der kommt mir sehr vertraut vor. Ja? Und mein Eindruck ist, sowie Du fragst, was mache ich jetzt damit, kannst Du ja mal drauf achten, stellt sich dieser alte Sachbezug und Weltbezug sofort wieder her? Ja? Kannst Du das spüren? Ja. Gut. Also, das ist ja auch mal gut zu wissen. Brauchst nur diesen Satz zu denken, was mach’ ich jetzt damit, schon bist Du im alten Weltbezug.
J: Mmh… aber darf ich was sagen. Dieses zwischen Neutrum und Neutrum zu sein, das hat mir sehr gut gefallen. Das fand’ ich sehr schön. Also, es ist mir wieder aus den Händen jetzt, aber….
K: Genau. Also, Du wolltest es halten.
J: Mmh.
K: Das Ich wollte das halten.
J: Mmh.
K: Aber dieser Zustand war ja gerade ein Zustand, in dem es kein Ich gab.
J: Ja… oder ein Neues…
K: Jedenfalls keins, daß was halten will.
J: Mmh…ja…
K: Also, die Frage wär’ jetzt, ist dieser Zustand, der Dich da in der Küche überrascht hat, machbar?
J: Also, da muß ich jetzt erst einmal sagen nein. Das wüßte ich… ich wüßte nicht, wie ich das machen sollte.
K: Ja,… andererseits war’s so, durch unser Gespräch stellte er sich wieder ein.
J: Mmh…ja…
K: Also kann man sagen, in einem gewissen Sinne war er wieder herstellbar.
J: Nicht ganz, aber graduell…
K: Und gleichzeitig hat man aber den Eindruck, so ganz einfach ist der nicht machbar. Also mir kommt noch eine Idee. Wenn ich da reinspüre, ist es so, daß der Zustand dieser Ich-Losigkeit wie so eine Art Tiefenentspannung für die Seele ist.
J: Mmh… mmh.
K: Als wenn man sich auf einer ganz tiefen Ebene entspannt.
J: Ja.
K: Warum? Weil’s einem nicht mehr gibt. Und in diesem Sinne, tiefer kann man sich gar nicht entspannen.
J: Ja, ja, ja…
K: Und meiner Meinung nach ist das eine der tiefsten existentiellen Wurzeln des Buddhismus, weil im Nirwana gib’s Dich nicht mehr und wenn’s Dich nicht mehr gibt, dann gibt’s natürlich kein Leid und keine Freude und so weiter, aber daß ist das, wenn du es mal erlebt hast, tiefste, entspannendste, beruhigendste, was es überhaupt gibt, … wenn man diese erste kurze Angst davor verloren hat. Kaum ist das Ich wieder da, erinnert es sich, wie schön entspannend das war und dann will es wieder da hin. Aber dann will es als Ich dahin, was sich als Ich entspannt. Aber als Ich kommt man da nicht hin. Ja? Macht das Sinn?
J: Ja… absolut, ja… mmh…
K: Das heißt, man kommt nur hin, wenn man das Ich aufgibt; aber man gibt ja dann das Ich als Ich auf und damit hat man es nicht wirklich aufgegeben… und dann kann man nur noch hoffen, daß es einem erwischt, so wie es Dich in der Küche erwischt hat. Ja… oder es stellt sich dann manchmal in so einem Gespräch ein. Und schwupp, schon ist es wieder weg.
J: Mmh… ja…
K: Wenn Du jetzt noch einmal zu dem Löffel zurückgehst. Du hast den Löffel in der Hand… wie ist das?
J: Also ich hab’ das Gefühl ich kann graduell das so ein bißchen, durch die Erinnerung, hervorbringen. Es ist dieses sich anmuten lassen von dem Ding da, ohne… ohne alles.
K: Wenn ich in diesem Zustand bin, ist eine meiner Metaphern, daß das Profane und das Heilige kollabiert. Du guckst Dir diesen Löffel an und Du hast den Eindruck, im Löffel offenbart sich das Sein als Ganzes… und das ist immer ein heiliger Prozeß und gleichzeitig ist es natürlich das Profanste von der Welt, es ist ein abgeschleckter Kaffeelöffel. Und wenn sich im Profansten das Heiligste zeigt, und das Heiligste, was etwas ganz profanes sein kann, was im Nächsten Moment schon nicht mehr was heiliges ist, dann steht die Beziehung vom Ich zum Ganzen in grundsätzlicher Weise in Frage.
J: Steht sie in Frage? Sie ist da.
K: Ja dann natürlich nicht, aber daß was Dich so erschreckt hat am Anfang war, jetzt bis Du mittlerweile dran gewöhnt, daß das Ich in Frage gestellt ist. Ja? Und jetzt stellt man aber fest, wenn man sich für einen Augenblick den Mut gönnt, seine Vorurteile und Ängste einen Augenblick zur Seite zu lassen, daß das was einem ängstigt auf eine so tiefe Art beruhigen kann und entspannen kann, daß die Grundspannung des Da-Seins aufhört, ohne daß man aufhört da zusein. So, und wenn Du jetzt einmal spürst, was ist die Grundspannung des Da-Seins?
J: Also der erste Gedanke war Entwicklung… Prozeß… irgend so was.
K: Mmh. Und wenn Du in dieser Art mit dem Sein verbunden bist, ist dann diese Grundspannung immer noch da?
J: In welcher Art?
K: Wenn Du in dieser staunenden Art auf den Löffel guckst.
J: Nein. Es ist völliger Stillstand, aber nicht schlimm, nicht negativ.
K: Das heißt, was hört dann in einem gewissen Sinne auf?
J: Die Zeit.
K: Die Zeit hört auf. Genau. Und wenn wir dem jetzt einmal etwas näher nachgehen, würdest Du dann sagen die Zeit bleibt stehen oder sie hört auf?, was ja ein Unterschied ist.
J: Sie hört auf.
K: Sie hört auf. Und wenn die Zeit aufhört, was hört dann automatisch mit auf, obwohl man das in dem Moment nicht mit thematisiert?
J: Der Raum.
K: OK. Und vor allem die Endlichkeit hört auf. Und damit bedeutet da zu sein in der Zeit zu sein, endlich zu sein, sterblich zu sein. Und wenn man sterblich ist, bekommt die Entwicklung etwas spannungsreiches, nämlich mit der kurzen Weile des Lebens etwas zu machen.
J: Mmh.
K: Und es nicht zu vergeuden. …Und wenn die Zeit still steht und das Universum in Dir die Augen öffnet, was passiert dann mit dem Tod?
J: Den gibt’s dann auch nicht mehr.
K: Ja. Was aber nicht bedeutet, daß Du nicht stirbst, sondern was bedeutet das: Den Tod gibt’s dann auch nicht mehr?
J: Also, diese ganze Begrifflichkeit, das ist alles weg. Es ist aus dem Blick, aus dem Bewußtsein. Mmh…
K: Ja. OK. Wenn also die Zeit still steht, der Tod, die Endlichkeit und die Da-Seins-Spannung weg ist, was eröffnet sich dann?
J: Das Nichts.
K: Genau. Und gleichzeitig ist klar, Du kannst in diesem Zustand nicht bleiben, nicht ewig, ja? Irgendwann mußt Du auf Toilette, wirst hungrig… das heißt, wenn klar ist, man kann in diesem Zustand nicht bleiben und man kommt aus diesem Zustand zurück in die Tathandlung,… was ist dann anders, wenn man nicht in das alte Muster zurückgeht?
J: Ich bin um diese Erfahrung reicher. Ich kann die Welt nicht mehr unschuldig sehen, wie zuvor… oder naiv…
K: Du wertest schon wieder was ab, merkst Du das?
J: Ja, stimmt…. ich wollte Gelassenheit sagen.
K: Ja, sag’ doch einfach.
J: Gut. Gelassenheit. Mmh… aber das stimmt nicht. Das wäre so eine rationale Verlängerung, daß man aus diesem tiefen Entspanntsein sagt, jetzt kann ich in tiefe Gelassenheit gehen. Stimmt nicht.
K: Das war auch nicht mein Gefühl. Mein Gefühl war was ganz anderes. Wenn ich aus diesem Gefühl raus komme handle, dann ist mir eigentlich nach heulen, und zwar nicht aus Trauer, aber auch nicht aus Freude. Ich kann auch nicht genau sagen, ob daß dann ein Gefühl ist, was sich dann ausdrückt. Das ist so, als wenn auf einer ganz tiefen Ebene eine Art Entlastung stattgefunden hat, die sich im Weinen äußert.
J: Eine Erschütterung.
K: Bleib’ mal bei dieser Erschütterung. Spür’ mal, was da eigentlich erschüttert worden ist.
J: Die Erschütterung richtet sich auf das Normale und macht das so… also, daß das da ist, ist dann wunderbar… auch Verwundertsein. Gleichzeitig ist es so absolut Kontingent und es ist nichts, aber es ist auch alles und mehr hat man nicht… und es ist absurd und richtig uns so…
K: Ja. Und wenn Du diese Erschütterung jetzt weitergehst, daß das alles gleichzeitig ist, all diese extrem widersprüchlichen Bestimmungen… und Nichts… Bei mir ist es so, ich will Dir das jetzt nicht als Kind im Bauch einreden, aber mein Eindruck ist, daß das bei Dir ähnlich sein könnte, daß es eine tiefsitzende seelische Spannung ist, die sich bemüht etwas an der Realität festzuhalten. Dieses Bemühen des Festhaltens wird unnötig und das erlebe ich dann wie eine Erleichterung.
J: Da kann ich nichts….
K: OK, gut. …Der alltägliche Weltbezug, stellt ja die Bedeutung fest. Das ermöglicht ja etwas, wenn die Bedeutung festgestellt ist, und es entmöglicht etwas.
J: Mmh.
K: Und wenn Du jetzt aus diesem Zustand raus kommst… und jetzt wieder den Löffel und den Tisch und die Wand und die Tür und die Lampe siehst… bist nicht mehr ganz in diesem alten Zustand, wo Du gerade herkommst, und noch nicht ganz wieder in dem alltäglichen, auf den Umgang mit den Dingen gerichteten (Zustand), Du bist in so ‘ner Zwischenposition. Was passiert denn dann?
J: Als Du das erzähltest kam so eine ganz tiefe Liebe zu den Dingen, daß sie da sind.
K: Ja. Genau. Das meinte ich. Und da kommen Dir nicht die Tränen?
J: (lacht)
K: Aber es sieht irgendwie so aus, als wenn Dir das fast peinlich wäre, daß Dich das so ergreift.
J: Das ja, das peinliche ist, (lacht)…daß ich sagen will, daß ich es gar nicht fassen kann, daß diese Dinge für mich da sind.
K: OK.
J: Das ist meine Welt.
K: Ja.
J: Aber es ist…es ist… es ist… ich kann’s kaum sagen, es ist einfach wunderbar.
K: Ja.
J: (weint) …ich kann nicht sprechen. Es macht einem… es macht einem einfach nur demütig.
K: Mmh. Das ist doch schon einmal das, was man eine existentielle Erschütterung nennen könnte, oder?
J: Ja,… ich würd’s eher als eine Reinigung bezeichnen.
K: Gut.
J: Das sind die… das sind die großen Worte dieser Welt (weint). Das ist Demut und das ist Gnade und das ist Liebe.
K: Und das klingt so, als wenn für einen Teil von Dir viel Mut dazugehört, diese Worte ohne Abwertung auszusprechen.
J: Nee.
K: Oder so…nee?
J: Nee, glaub’ ich nicht. Aber das sind Worte, die ‘ne ganz andere Bedeutung haben…
K: Als…
J: als man so….
K: Ja, verstehe ich.
J: Und das ist so groß und so gewaltig, daß man sich kaum traut es anzusprechen.
K: Ja. Aber Du bist ein Teil dieses Großen, Gewaltigen…
J: Ja.
K: Das heißt, auch in Dir öffnet das Universum seine Augen.
J: Mmh…(schneuzt sich)
K: Gut. Ich glaub’ wir machen hier mal ‘ne Pause.
J: Ja.