Ein typisches Beispiel für eine unwissenschaftliche Methode in der Psychotherapie ist das NLP, und ein nicht unerheblicher Teil der Vorbehalte gegen NLP in akademischen Kreisen lässt sich darauf zurückführen, dass sie sich, was naheliegend ist, mit dem theoretischen Überbau des NLP mehr beschäftigt haben als mit der konkreten Anwendung der Techniken. Diesen Überbau haben sie dann als simplizistisch, reduktionistisch und mechanistisch kritisiert.
Die Teilnehmer an Ausbildungskursen hingegen waren vorwiegend von der Effektivität und der Schnelligkeit der jeweiligen Veränderungstechnologien beeindruckt und sahen für sich Möglichkeiten, viel schneller als mit anderen Verfahren limitierende Bewußtseins- und Erlebniszustände zu verändern. Diese Teilnehmer wiederum waren an metatheoretischen Reflektionen kaum bis gar nicht interessiert. So lässt sich auch erklären, dass bis zum heutigen Tag zum Teil sachlich haarsträubend falsche Behauptungen von führenden NLP-Trainern verbreitet werden, ohne dass ihnen die entsprechenden Fachleute in den Seminaren auch nur widersprechen würden.
Ein Beispiel dafür wären die von Robert Dilts behaupteten Zusammenhänge zwischen seinem Modell der logischen Ebenen und entsprechenden Ebenen im zentralen Nervensystem und im Gehirn. Obwohl in seinen Seminaren viele Menschen aus heilenden Berufen (zum Beispiel Ärzte) anwesend sind, finden keine Diskussionen über die dort gemachten Behauptungen statt. Auch hier ist man mehr an der praktischen Applikation und Nützlichkeit des Modells als an irgendwelchen, für die therapeutische Praxis unwesentlichen Bezügen zur Neurophysiologie, Neuroanatome etc. interessiert. NLP ist ein Beispiel dafür, dass etwas funktionieren kann ohne wissenschaftlich begründet zu sein.
Mit ‚wissenschaftlich’ ist in diesem Zusammenhang das methodische Vorgehen der Naturwissenschaften gemeint. Dieses ist gekennzeichnet durch ein gesichertes, in einem Begründungszusammenhang von Sätzen gestelltes und damit intersubjektiv kommunizierbares und nachprüfbares Wissen, das bestimmten Kriterien (z.B. Allgemeingültigkeit, Systematisierbarkeit) folgt. Die wissenschaftliche Methode folgt den Ablaufschritten Beobachtung, Hypothesenbildung, Experiment und Theoriebildung. Die Psychologie und Psychotherapie haben es als Geisteswissenschaften mit Individuen zu tun, woraus verschiedene Schwierigkeiten resultieren, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Das größte Problem besteht darin, dass jeder Mensch in gewisser Beziehung einzigartig ist. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit allgemeingültige wissenschaftliche Aussagen über das psychische Geschehen gemacht werden können. Aber auch die gegenteilige Frage wird gestallt: Kann die Psychotherapie auf Dauer ohne eine wissenschaftlich fundierte, d.h. nach Wahrheitskriterien bemessene Vorstellung des psychischen Geschehens auskommen?
Grawe unterscheidet in der Psychotherapie grundsätzlich zwei Auffassungen: Die eine Gruppe von Therapieforschern und Therapeuten vertritt die Auffassung, dass es vollständig von den Erwartungen des Klienten abhängt, was der Therapeut tun muss, um ihn zu nützlichen Veränderungen zu veranlassen. Hier ist alle Theorie belanglos. Allein die Frage, welches Behandlungsrationale für den Klienten den größten Überzeugungswert hat, ist wichtig. Eine solche Therapie wurde von Fish 1973 bereits in die Praxis umgesetzt. Er nennt sie Placebo-Therapie, weil er das Behandlungsritual ausschließlich
danach ausrichtet, welche Überzeugungen und Ansichten des Klienten bzgl. seines Problems hat. Die zweite Auffassung wird wahrscheinlich von der Mehrheit der Psychotherapeuten geteilt. Sie besagt, dass es so etwas wie wahre und falsche Auffassungen vom menschlichen Seelenleben geben muss. Wissenschaftliche Therapieforschung verfolgt also das Ziel, diese wahren Auffassungen herauszufinden und Therapeuten zu animieren, gemäß diesem Wissen vorzugehen.
Die Auffassung der Autoren liegt zwischen beiden Extremen. Das WIE der Veränderung sollte nicht bzw. nur zu einem geringen Teil nach der jeweiligen therapeutischen Theorie festgelegt sein, sondern davon bestimmt werden, was der Klient braucht. Diese Frage sollten den Ausgangspunkt der therapeutischen Überlegungen bilden. Allerdings ist therapeutisches Wissen, vor allem bezogen auf das Prozessgeschehen hilfreich und notwendig, um entscheiden zu können, wie die gewünschten Veränderungen herbeigeführt werden können. Der Klient allein weiß es nicht, sonst wäre er nicht zum Therapeuten gekommen. Eine theoretische Reflektion dessen, was Therapeuten tun ist somit nach unserer Auffassung notwendig, und wir schreiben dieses Buch mit dem Ziel, diejenigen Faktoren bewusst zu machen, die therapeutische Veränderungen wesentlich beeinflussen können – vor allem bezogen auf Fragetechniken.
Die Wirkprinzipien, die in diesem Buch erarbeitet worden sind, können der Therapeutin als Anhaltspunkt dienen, in welche Richtung sie unter welchen Bedingungen sinnvollerweise vorgehen kann bzw. sollte. Solche Bedingungen können z.B. sein:
a) Der Motivationszustand des Klienten: Inwieweit ist er bereit, bei sich Einstellungen und Verhaltensweisen zu ändern. In diesem Zusammenhang mag es für den Therapeuten wichtig sein, Kriterien zu haben, wann er die Therapie abbrechen sollte?
b) Die Erwartungen des Klienten sind entscheidend für den Therapieerfolg. Diese können sich beziehen auf die Selbstwirksamkeitserwartung oder auf die Veränderbarkeit des Problems überhaupt.
c) die Beziehung zwischen Therapeut und Klient
d) die Art des Problems.
Diese Art der Therapie setzt seitens der Therapeutin voraus, dass sie flexibel diejenige innere Haltung einnehmen kann, die den Bedürfnissen der Klientin am besten gerecht wird. Das bedeutet u.U., dass die Therapeutin den idiologischen Überbau, der durch die Therapiemethode vorgegeben ist, wechseln muss, um maximal auf die Bedürfnisse der Klientin einzugehen.
Obwohl wir ein theoretisches Wissen für nützlich und sinnvoll halten, sehen wir Psychotherapeuten vor allem als Handwerker, als Praktiker. Psychotherapie ist im Kern ein Handwerk – keine Wissenschaft. Sie ist auch keine Technik im Sinne der durch die Naturwissenschaften angeleiteten Techniken wie Elektrotechnik, Ingenieurswesen etc. In diesen Techniken gibt es eine direkte Führungsrolle der Theorie. Die Theorie der Mechanik gibt dem Statiker die Formeln und Wirkmechanismen, nach denen er sich bei seinen Berechnungen richten muß. Die Elektrodynamik und die in ihr formulierten Gesetze wie das Ohmsche und das Kirchhoffsche Gesetz wirken unmittelbar handlungsleitend für Fernsehtechniker.
Im Gegensatz dazu fungieren die psychotherapeutischen Theorien (linguistischer, neurophysiologischer, stammesgeschichtlicher, philosophischer und systemtheoretischer Natur) eher motivierend, orientierend und ideenfördernd. Aus dem Verständnis eines theoretischen Bezugsrahmens heraus entwickeln Therapeuten Hypothesen darüber, was mit den Klienten los ist. Häufig wird sich daraufhin ein positiver Behandlungsverlauf einstellen. Aber das sollte niemanden veranlassen zu glauben, dass die von den Theorien postulierten Behauptungen ‚wahr‘ sind. Sie sind höchstens nützlich. Unter diesem Blickwinkel ist die erklärte Theoriefeindlichkeit von Bandler und Grinder verständlich, die therapeutische Theorien als ‚Psychotheologien‘ bezeichneten. Belegt wird diese Einstellung durch die Tatsache, dass die meisten psychotherapeutischen Methoden Erfolge aufweisen, obwohl sie einander in ihren Theorien in wesentlichen Punkten widersprechen.
Keine Psychotherapieform kann für sich beanspruchen, objektiven wahr zu sein. Die für die Veränderung relevanten Faktoren sind häufig völlig losgelöst von der Theorie der jeweiligen Methode. So lassen sich die konkreten therapeutischen Techniken, die aus den verschiedenen theoretischen Konzeptionen entstanden sind, auch nutzen, wenn man diesen Hintergrund nicht teilt, ihn gegebenenfalls sogar ablehnt. Daraus ergeben sich Konsequenzen, die traditionelle Annahmen über die Wirkweise von Psychotherapien grundlegend in Frage stellen.
Dieser Gedankengang soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Es betrifft die Vorannahme von Steve des Shazer: ‚Man kann den anderen nicht verstehen‘. Diese sprachpessimistische Position kann man in zwei verschiedenen Härtegraden verstehen: Erstens: Was der andere mit einem Satz, einem Wort etc. überhaupt meint, kann man prinzipiell nicht verstehen, da das subjektive Bedeutungserlebnis ein Phänomen der ersten Person singular ist und bleibt. Jedes Nachfragen (Wie meinst du das?) führt nur zu neuen Worten, Gesten und Zeichen, deren subjektiver Bedeutungsgehalt mir nicht zugänglich ist. Zweitens: die abgeschwächte Version gibt zu, dass man einen Satz wie ‘Reiche mir bitte die Zuckerdose’ dann verstanden hat, wenn man die Handlung ausführt, die die Sprecherin intendierte. Hingegen wäre eine Frage wie: ”Liebst du deine Frau?” in diesem Sinne weder verstehbar noch beantwortbar, da es keine endliche Menge von Handlungen gibt, die die Bedeutung der Frage demonstrieren können.
In welchem Sinne Steve de Shazer meint, man könne den anderen nicht verstehen, ist aus seinen Texten nicht ersichtlich. – Klar ist allerdings, dass die Skalierungsfragen die Absicht haben, dass Verstehensproblem vom zweiten Typus zu umgehen, indem aus der qualitativen Frage eine quantitative gemacht wird und das Qualitative des Quantitativen, d.h., das Was des Mehr oder Weniger, bleibt ganz im subjektiven Bedeutungsraum des anderen. Ein möglicher Wechsel des Was wird als solcher nicht thematisiert.
Beispiel:
Der Therapeut fragt den Klienten, wie hoch sein Gefühl der Ängstlichkeit auf einer Skala von 0 bis 10 ist. Damit wird so getan, als wenn sichergestellt wäre, dass die Qualität des Gefühls über die Skala erhalten bleibt. Schlägt bei 6 oder 7 das Gefühl in etwas anderes um, ist das genau so gut, allerdings auch genau so unerheblich. Die Skala entlastet den Therapeuten vom Verstehen der subjektiven Befindlichkeit und quantifiziert und operationalisiert den Abstand zwischen Ausgangs- und Zielsituation.
Diese Operationalisierung hat sich in der Therapie sehr bewährt und wird von uns in verschiedenen Situationen genutzt ohne dass wir die sprachpessimistische Position von Steve de Shazer weder in der ersten noch in der zweiten Variente teilen. Bei Steve de Shazer zeigt sich, ähnlich wie beim NLP und dessen wichtigster Fragemethode, dem Meta-Modell, dass zwischen dem therapeutischen Handwerkszeug und seinen philosophischen, linguistischen, metatherapeutischen usw. Begründungen sehr häufig ein Verhältnis der Äußerlichkeit besteht. Äußerlichkeit meint hier soviel wie Beliebigkeit, subjektiver Geschmack. Anders gesagt: die therapeutischen Methoden sind nutzbringend anzuwenden auch wenn man den legitimierenden Überbau nicht teilt oder kontrovers sieht. Diese Situation ist typisch für handwerkliches Wissen.
Dazu noch ein weiteres Beispiel:
Seit Jahrtausenden backen Menschen Brot, und seit Jahrtausenden weiß man, dass, wenn man den Teig gehen lässt, dieser sich aufbläht. Erst seit einigen Jahrzehnten wissen wir, dass dieser Vorgang dadurch zustande kommt, dass dem Teig beim Kneten Hefepilze untergemengt wurden, die Kohlenhydrathe (z.B. Zucker) fressen. Dadurch wird Wasser und Kohlendioxid freigesetzt, was bewirkt, dass der Teig aufschäumt. Wie immer sich unsere Vorfahren die Poren erklärt haben mögen, sie wussten noch nichts von Hefepilzen und Kohlendioxid. Auf die Frage allerdings, was man tun muss, und wie man es tun muss, damit der Teig gelingt, wussten die Bäcker zu allen Zeiten eine Antwort zu geben, die wiederum je nach Brotsorte etwas anders ausfiel.
Für uns gibt es daher einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Rechtfertigungsrahmen und einer Erklärung. Ein Rechtfertigungsrahmen entsteht immer dann, wenn wir auf die Frage ‘warum’ keine Erklärung parat haben bzw. wenn wir das, was wir tun, im Rahmen unserer Weltanschauung, unserer philosophisch-religiösen Vorstellungen rechtfertigen wollen. Im Gegensatz dazu ist eine Erklärung in der Lage, verifizierbare respektive falsifizierbare Vorhersagen zu machen, die ohne diese Erklärung nicht möglich gewesen wären. Da die Psychotherapie weit davon entfernt ist, eine Wissenschaft zu sein, sondern in jeder Beziehung ein Handwerk darstellt und eine Kunst, rechtfertigt sich ihr Vorgehen unserer Meinung nach durch die Qualität ihrer Ergebnisse und nicht so sehr durch Theorien oder Weltanschauungen.
So kommt es, dass einige Richtungen der Psychotherapie ihre Interventionen am Erleben von Klienten ausrichten, andere am Tun und wieder andere das Ziel darin sehen, unbewusste Prozesse aufzudecken. Obwohl in den letzten Jahren die Tendenz zugenommen hat, zu einer Integration der Psychoherapien zu kommen, bleiben viele Therapeuten bei ihrer ursprünglichen Perspektive, der Methode, die sie ursprünglich gelernt hatten. Mit Grawe sind die Autoren der Ansicht5, dass das Beharren auf einer bestimmten Perspektive auf bewussten oder unbewussten Vorstellungen bzw. Menschenbildern beruht, denen der jeweilige Therapeut folgt. Diese Menschenbilder enthalten Grundüberzeugungen darüber, was das Glück oder Unglück von Menschen ausmacht, worin die Ursachen von Problemen liegen etc. Mit diesem Buch wollen wir einen Beitrag dazu leisten, diese meist unbewussten Vorstellungen zu reflektieren und aufgrund dieses Prozesses die Möglichkeit zu haben, die Erkenntnisse anderer Psychotherapien in der eigenen Arbeit zu nutzen.
Das Buch “Magie des Fragens” ist als ein Versuch zu lesen, die Karte über das Territorium therapeutischer Veränderung im Allgemeinen und Veränderung durch Fragen im Besonderen um neue Kontinente zu erweitern. Die verschiedenen therapeutischen Fragetechniken können in diesem Sinne als regionale Karten verstanden werden, und der Übergang von einer Fragemethode zu einer anderen als der Übergang von einem Kontinent in den anderen. Der Leser dieses Buches wird so die Erfahrung machen, wie es ist, aus dem Orbit einen Überblick über die Struktur und Topologie dieser Kontinente zu bekommen. Jeder dieser Kontinente verfügt über sein eigenes Glaubenssystem bzgl. dessen, was therapeutisches Fragen bedeutet und über ‘rituelle’ Praxen der Befragung. Diese regionalen Glaubenssysteme verlieren vom Orbit aus gesehen ihre Aufdringlichkeit, die einzig ‘wahre’ Fragemethode zu sein, und es wird möglich, den Unterschied zwischen Entdeckungszusammenhang und Anwendungsform der jeweiligen Fragetechniken zu erkennen, was eine neue Souveränität und Gelassenheit im Umgang mit diesen Methoden ermöglicht.