Müssen wir glauben?
Ich hatte einen Klienten, der kam zu mir und sagte: ”Meine Frau liebt mich nicht mehr”. Ich sagte: ”Das ist ja interessant. Woran merken Sie denn das?”
”Das merke ich daran, sie sagt nichts Nettes mehr zu mir.”
”Das ist in der Tat bedauerlich”. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, da stimmt etwas nicht. Und ich habe ihn gebeten, mich einzuladen zu sich nach Hause.
Das hat er auch gemacht, er lud mich zum Essen ein, wir saßen zu dritt am Tisch, und unterhielten uns über dieses und jenes, und auf einmal sagte die Frau (ich erwähnte sehr lobend den Rosengarten) ”Das hat mein Mann doch toll gemacht. Wenn der im Garten arbeitet, dann sieht es immer so toll aus”.
Als sie in der Küche war, habe ich ihn angestoßen und gesagt: ”Haben Sie gemerkt?”
”Was?”
”Ihre Frau hat gerade was Nettes gesagt über Ihre Gartenarbeit”. ”Das hat sie doch nur gesagt, weil Sie da waren.”
Und so ging es weiter.
Die Frau erzählte im Laufe des Abends noch einige positive Dinge über ihren Mann und immer wenn ich ihn darauf ansprach, hatte er es entweder überhaupt nicht gehört, oder er sagte: ”Das meint sie nicht so, das sagt sie nur, weil sie damit was erreichen will”.
Der Glaubenssatz dieses Mannes, ”meine Frau liebt mich nicht mehr”, ist aufgrund irgendeiner Erfahrung entstanden. Vielleicht weil sie fremdgegangen ist, oder was auch immer. Und in seinem Modell der Welt bedeutet das jetzt, daß sie auch nichts Nettes mehr über ihn sagt. Wenn er das erst einmal glaubt, werden all die Bemerkungen, die tatsächlich nicht besonders nett sind, als Bestätigung des Glaubenssatzes aufgefaßt. Da, wo sie aber etwas Nettes sagt, hört er es gar nicht, oder wenn er es hört, biegt er es so zurecht, bis er überzeugt ist, daß es eben nicht nett gemeint war. Die Folge: oberflächlich ist er verärgert und enttäuscht, aber unterbewußt atmet er auf, da sein Glaube an die nicht mehr ganz glückliche Ehe wieder einmal gerettet ist.
Dieser kleine Ausflug in die Praxis läutet ein Kapitel ein, das – endlich! – mit Glück erst einmal überhaupt nichts zu tun hat. Sondern damit, wie man die Komplexität der Wahrnehmung erhöhen kann, und was ein Glaubenssatz für die Organisation der inneren Erfahrung leistet. Denn wenn Glauben Glückssache ist, kann Glück auch Glaubenssache sein.
Sie können im Verlauf dieses Kapitel zum Beispiel überprüfen, inwiefern es sich auf die Informationsverarbeitung in Ihrem System auswirkt, wenn Sie während der Lektüre die Wahrnehmung der Komplexität und die Komplexität der Wahrnehmung ein wenig über das Übliche hinaus ausdehnen, etwa, indem der Input, den Sie jetzt bekommen, sich bei Ihnen auf sehr vielen unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig ausdehnen wird, wie bei einem mentalen Spagat, so daß Sie diesen und die nachfolgenden Sätze wie ein Rätsel aufnehmen, dessen Reiz darin besteht, daß Sie es weder zu lösen, noch auf die Lösung zu verzichten brauchen, und daß Sie die Worte zum Teil in Trance, zum Teil außerhalb einer Trance, zum Teil in einem merkwürdigen Zwischenreich lesen werden, denn zweifelsohne können Sie das, und haben es vielleicht bereits erfolgreich getan, während gleichzeitig noch ein anderer Teil von Ihnen versucht, sich in dieser etwas ungewöhnlichen Satzstruktur zurecht zu finden – doch dazu später mehr.
Mentale Prozesse, in denen aufgrund von Glaubenssätzen wie ”meine Frau liebt mich nicht mehr” etwas aus der Wahrnehmung verallgemeinert, getilgt oder verzerrt wird, passieren ständig.
Es gibt sehr viele Möglichkeiten, eine Information aufzunehmen und zu verarbeiten, Glaubenssätze geben der Informationsverarbeitung eine bestimmte Richtung, einen bestimmten Rahmen. Dieser Kontext bestimmt die Bedeutung, die man der Information beimißt und mit welchen Erfahrungswerten oder inneren Erlebnisse man sie verbindet. Hat man eine Anzahl von Einzelerfahrungen in einem bestimmten Rahmen eingeordnet, verfestigt sich der Rahmen und man gewinnt den Eindruck, es mit einer Klasse von wiederkehrenden Ereignissen zu tun zu haben. Kommen weitere Informationen dieser Art hinzu, werden sie automatisch dieser Klasse zugeordnet. So entsteht eine Verallgemeinerung. Bleibt sie lange genug bestehen, verfestigt sie sich weiter und wird zu einem Glaubenssatz, also zu einer tiefwurzelnden, mit jeder Faser des Seins als richtig erachteten Annahmen über das Funktionieren der Welt. Fällt der Satz: ”meine Frau liebt mich nicht” in jene Kategorie, dann bekommt er intern dieselbe unerschütterliche Wahrheit wie der Satz: ”jeden morgen geht die Sonne auf.”
Eine wesentliche Frage zum Thema Glaubenssätze ist: “Warum haben wir überhaupt welche?”
Dafür gibt es eine einfache Antwort: Weil wir nicht alles wissen können. Und weil wir nicht alles wissen können, müssen wir ständig glauben.
Glaubenssätze sind nichts anderes als Generalisierungen auf der Basis beschränkter, aber verallgemeinerter Erfahrung. Um diese Beschränkung kommen wir aber nicht herum, da kein Mensch über einen Erfahrungsschatz verfügen kann, der sämtliche im Universum möglichen Vorkommnisse zum Abgleich bereithält. Daraus machen wir dann etwas sehr praktisches: wir glauben. Irgend etwas. Wir können gar nicht nicht glauben. Einen Glaubenssatz zu bilden ist ein äußerst effektiver Weg, handlungsfähig zu bleiben angesichts unumgänglicher Erfahrungsdefizite.
Glaubenssätze haben aber gleichzeitig die Wirkung eines Wahrnehmungsfilters, der die Stabilität dessen, was wir glauben, über einen langen Zeitraum sichert.
Wenn wir erst einmal irgend etwas glauben, dann wirkt dieser Glaube wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, die das, was unser Glaubenssatz über die Welt aussagt, immer wieder neu bestätigt. Das heißt, Dinge, die wir glauben, nehmen wir verstärkt wahr und sie verstärken sich dadurch, daß wir sie wahrnehmen. Dinge, die zu dem, was wir glauben, nicht passen, ignorieren wir entweder von vornherein, oder wir verzerren sie so, daß sie mit dem Glauben, den wir haben, doch noch irgendwie übereinstimmen.
Glaubenssätze sind keine subjektiven Marotten aus dem Privatleben mißtrauischer Eheleute. Sie sind im hehren Wissenschaftsbetrieb genau so anzutreffen wie übrigens auch in der Therapie.
Das Buch “Die Arbeit mit Glaubenssätzen: Als Schlüssel zur seelischen Weiterentwicklung” gibt es nach der Anmeldung zum internen Mitgliederbereich kostenfrei zum herunterladen!